EU-Kommission:"Macht des EU-Parlaments geht zurück"

Lesezeit: 3 min

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben Ursula von der Leyen für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. (Foto: Getty Images)

Europarechts-Expertin Anna Katharina Mangold sieht in der Nominierung von der Leyens ein Zeichen für die zurückgehenden Integrationsbestrebungen in der EU.

Interview von Karoline Meta Beisel, Brüssel

Am Dienstagmorgen stellt Ursula von der Leyen sich dem Europaparlament vor: Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sie für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. Viele Abgeordnete kritisieren das Verfahren, mit dem sie nominiert wurde. Zu Recht? Ein Gespräch mit Anna Katharina Mangold, Professorin für Europarecht an der Universität Flensburg.

SZ: Frau Mangold, wenn am Dienstag Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin würde, obwohl sie nicht als Spitzenkandidatin bei der Europawahl angetreten ist - wäre das Betrug am Wähler?

Anna Katharina Mangold: Das kommt darauf an, wen man fragt. Ich glaube nicht, dass es eine einheitliche Erwartungshaltung der Wählerinnen und Wähler gibt. Das Spitzenkandidatenprinzip ist ja noch nicht so etabliert, dass jeder darüber Bescheid wüsste.

CDU
:Von der Leyen kündigt Rücktritt als Verteidigungsministerin an

Das verkündet die Ministerin auf Twitter. Am Dienstag stellt sich von der Leyen als neue EU-Kommissionspräsidentin zur Wahl.

Die Debatte rührt daher, dass der entsprechende Artikel im EU-Vertrag zwar besagt, dass die Staats- und Regierungschefs das Wahlergebnis bei der Nominierung zu berücksichtigen haben, aber nicht, was genau das bedeutet.

Es ist kein Zufall, dass der Passus so vage ist. Im Ringen zwischen Europäischem Rat und Parlament ist das Spitzenkandidatensystem seit Langem umstritten: Wollen wir die EU-Kommission mit mehr parlamentarischer Rückendeckung ausstatten? Dann würde sie sich in Richtung einer Regierung entwickeln - und damit zu einer potenziellen Gegnerin der Staats- und Regierungschefs. Im Moment geht es aber eher in die andere Richtung: Die Macht des EU-Parlaments geht zurück, auch weil es fragmentierter ist. Das hat der Europäische Rat erkannt und seine Chance genutzt.

Einige Parlamentarier sagen, sie hätten einfach zu wenig Zeit gehabt.

Das Parlament hätte sich fraktionsübergreifend ganz klar zum Spitzenkandidatenprinzip bekennen müssen, dass also die stärkste Fraktion die Gelegenheit erhält, eine Koalition zu bilden - und wenn das nicht gelingt, die zweitstärkste. Wenn sie ein klares Verfahren gehabt hätten, dann wäre das Parlament dem Rat machtvoller entgegengetreten. So aber wird der Rat noch mächtiger, als er im Moment eh schon ist: Alle zentralen Fragen, ob Finanz- oder Flüchtlingskrise oder Antworten auf den Terrorismus werden inzwischen im Kreis der Regierungschefs entschieden. Parlament und Kommission spielen bei diesen Themen kaum eine entscheidende Rolle mehr.

Warum nicht? Am EU-Vertrag hat sich nichts geändert.

Das hat mit der politischen Situation in den Mitgliedstaaten zu tun. Mit dem Brexit tritt zum ersten Mal ein Land aus der EU aus, und in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten, etwa Ungarn oder Polen, liegt der Fokus ganz klar auf den nationalen Interessen. Lange sah es so aus, als würde die Entwicklung in der EU immer hin zu mehr Integration verlaufen, jetzt scheint es, als schwinge das Pendel zurück. Deswegen wird auch der Europäische Rat, in dem primär die nationalen Interessen vertreten werden, wieder machtvoller.

Ist das potenzielle Scheitern des Spitzenkandidatenprozesses also ein Zeichen der zurückgehenden Integrationsbestrebungen in der EU?

So würde ich es deuten, ja.

Der französische Präsident Emmanuel Macron sagt, dass das Spitzenkandidatensystem solange nicht funktioniert, bis man die Kandidaten auch in jedem Land wählen kann.

Macrons Argumentation kommt mir scheinheilig vor. Er sieht sich in der EU als Macher, will sich in den Vordergrund drängen. Das läuft einem Spitzenkandidatenprozess, aus dem möglicherweise andere charismatische Führungspersönlichkeiten hervorgehen, insgesamt zuwider.

Wenn von der Leyen gewählt werden sollte, ist das Spitzenkandidatensystem dann für alle Zeiten tot?

Nein, das hängt auch immer von einzelnen Persönlichkeiten ab. Es kann sein, dass sich das Europaparlament bis zur nächsten Wahl berappelt. Ich bin aber auch noch gar nicht davon überzeugt, dass sie gewählt werden wird.

Mit welchen Versprechungen könnte sie im Parlament noch Stimmen gewinnen?

Frau von der Leyen könnte sich eng an die politischen Entscheidungen binden, die im Parlament getroffen werden. Es gibt ja in den Verträgen bislang kein Initiativrecht des EU-Parlaments. Sie könnte versprechen, Gesetzesideen aus dem Parlament aufzugreifen. Aber vielleicht orientiert sie sich auch mehr in Richtung der Mitgliedstaaten. Entscheidend wird sein, wie die Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn und Polen weitergeführt werden, denn die Kommission wirkt hier nationalistischen Interessen entgegen.

Von der Leyen hat angekündigt, sich für eine Stärkung des Spitzenkandidatensystems einzusetzen. Entscheiden muss das aber der Europäische Rat. Glauben Sie, es kommt dazu?

Das wäre auf jeden Fall im Interesse der Regierungschefs, die zur Europäischen Volkspartei gehören. Die ist bis jetzt ja immer die stärkste Fraktion gewesen, das wird sich so bald auch nicht ändern. Aber auch dem Rat insgesamt wäre damit geholfen. Wenn die Staatengemeinschaft so zerstritten ist wie jetzt, ist es gut, für Prozeduren zu sorgen, die das Erpressungspotenzial für widerspenstige Staaten verringern.

© SZ vom 16.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: