Flüchtlinge:Warum die EU mit Visa-Erleichterungen für die Türkei hadert

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Cizre, Südosttürkei: Der dortige Kampf zwischen Regierung und Kurden ist ein schwieriges Kapitel in den türkisch-europäischen Beziehungen. (Foto: Ilyas Akengin/AFP)
  • Im Europäischen Parlament setzt es heftige Kritik am geplanten Flüchtlingsdeal mit der Türkei.
  • Dessen Umsetzung könnte kompliziert werden, weil sich die Auffassungen von Demokratie und Rechtsstaat bei EU und Türkei stark unterscheiden, zum Beispiel beim Thema Datenschutz.
  • Eine weitere Angst: Fliehen alle unterdrückten Kurden im Falle von Visa-Erleichterungen nach Europa?

Analyse von Thomas Kirchner, Brüssel, und Mike Szymanski, Istanbul, Brüssel/Istanbul

Die auf dem Gipfel erzielte Grundsatz-Einigung mit der Türkei bewegt und spaltet Europa. Die einen halten sie für zwingend geboten, die anderen verdammen sie als Pakt mit dem Teufel. Bei einer Debatte im Europäischen Parlament überwog am Mittwoch eindeutig die Kritik, quer durch die Parteien. "Höchst problematisch" nannte der Liberale Guy Verhofstadt den geplanten Deal. Europa wolle damit "seine Probleme outsourcen". Die Linken-Abgeordnete Gabriele Zimmer sprach von einem "vergifteten Angebot", einer Art "Ablasshandel".

Neben den Menschenrechtsproblemen der Türkei löst vor allem die von Ankara gewünschte beschleunigte Visa-Liberalisierung Bedenken aus. "Spätestens Ende Juni", so stellte es Premier Ahmet Davutoğlu in Brüssel dar, würden sich seine Landsleute frei im Schengen-Raum bewegen können. Für viele europäische Innen- und Sicherheitspolitiker ist das Grund zur Beunruhigung. Eine der Ängste: Alle unterdrückten Kurden würden sich sofort Richtung EU in Marsch setzen.

Bis 1980 hatten Türken freien Zugang zu Europa

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Was jetzt geschehen soll, ist ohne die Vorgeschichte nicht zu verstehen. Bis 1980 hatten Türken freien Zugang zu Europa. Die "Visa-Mauer" wurde erst nach einem türkischen Militärputsch 1980 errichtet. Dass sie trotz der Annäherung um die Jahrtausendwende, die 2005 in die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mündete, stehen blieb, war für Ankara ein stetes Ärgernis. Für alle Staaten des Westbalkan (außer Kosovo) hat die EU den Visumzwang aufgehoben, sogar für die Republik Moldau. Warum, argumentiert man in Ankara, wird ihnen gewährt, was dem EU-Beitrittskandidaten Türkei hartnäckig verweigert wird? Das mache den Besuch von Verwandten in der EU ebenso mühselig wie es Unternehmern die Arbeit erschwere und Studenten den Austausch. Deutsche können einfach mit Personalausweis in die Türkei reisen.

Die Wende kam im Dezember 2013, als die EU sich mit Ankara auf den Weg hin zu einer Liberalisierung einigte. Im Gegenzug versprach die Türkei, künftig alle abgewiesenen eigenen Bürger sowie jene aus Drittstaaten zurückzunehmen. Allerdings dämpfte man in Brüssel die Euphorie sofort, verwies auf die lange Liste von Bedingungen und stellte vorerst nur Erleichterungen für einige Gruppen in Aussicht. Seit dem ersten Fortschrittsbericht 2014, der gravierende Rückstände aufzählte, hat sich einiges bewegt, vor allem bei eher technischen Kriterien, etwa der Sicherheit von Personalausweisen. Und die höchste Hürde - Fragen des Grenzmanagements und der Rückübernahme - wird die Türkei nun aus dem Weg räumen.

Laut dem kürzlich veröffentlichten zweiten Fortschrittsbericht bleiben aber gravierende Probleme in den Bereichen "Öffentliche Ordnung und Sicherheit" sowie "Grundrechte" zu lösen. Hier geht es etwa um die Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Terrorismus, Korruption und die Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen wie der Polizeibehörde Europol und der Grundrechtsbehörde Eurojust.

Dass hier auch grundverschiedene Auffassungen von Rechtsstaat und Demokratie aufeinanderprallen, zeigt das Beispiel Datenschutz. Der ist wichtig, denn bei der Kooperation im Bereich Justiz oder Grenzschutz müssen Personendaten ausgetauscht werden. Solche Daten sind bisher in der Türkei nicht geschützt. Die bislang in Ankara vorgelegten Gesetzentwürfe hätten, so die Kommission, "bedauerlicherweise Makel, die es unmöglich machen, sie als vereinbar mit den Standards der EU oder des Europarats anzusehen". Nirgends sei gesichert, dass die Datenschutzregeln für alle staatlichen Behörden, also auch für die Polizei gelten, oder dass die Aufsichtsbehörde auch wirklich unabhängig sei.

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Krieg gegen die kurdische PKK

In der Fassung von 2014 ist noch eher der Wunsch erkennbar, die Daten wirklich zu schützen. Seitdem das Land aber in einen Strudel innen- und außenpolitischer Konflikte geraten ist, Krieg gegen die kurdische PKK und die Terrormiliz IS führt, ist es vorbei mit der Strenge. Die Fassung, die den Abgeordneten im Januar zuging, sieht viele Ausnahmen vor, die mit dem Schutz der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden. Wann die Sicherheitsbehörden auf Daten zugreifen können, soll ein siebenköpfiger Ausschuss bestimmen, deren Mitglieder vom Premier und vom Präsidenten ernannt werden.

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Vor allem an Recep Tayyip Erdoğans Einfluss stört sich die Opposition. "Der Präsident ist nicht zuständig für solche Fragen", sagt Oktay Vural, Fraktions-Vizechef der ultranationalen MHP, der SZ. Wer erlebt, wie Erdoğan und die AKP-Regierung gegen politische Gegner vorgehen und dabei hoch sensible private Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, versteht den Wunsch nach unabhängiger Datenschutz-Aufsicht. Zwei bis drei Artikel des Gesetzes seien "problematisch", so Vural. Die Opposition kann das Gesetz verzögern, aber nicht verhindern; die AKP regiert allein. Wenn sie nacharbeite, könnte das Gesetz laut Vural aber "innerhalb von ein paar Tagen" das Parlament passieren. Ob es EU-Standard erfüllt, ist eine andere Frage.

Hier muss sich die Türkei also stark bewegen. Und die EU muss sich beeilen, wenn die Sache bis Juni geklärt sein soll. Die Kommission versichert, man werde keinen Rabatt gewähren, während das EU-Parlament, das mitentscheiden kann, verschärfte Wachsamkeit ankündigte. Dass ohne Visumzwang Hunderttausende Richtung EU drängen, ist unwahrscheinlich. Die meisten haben noch keinen Pass. Auch würde den Türken nicht, wie EU-Bürgern, Niederlassungsfreiheit eingeräumt. Es geht also um die Gewährung von Asyl. Da sind die Aussichten, etwa für bedrohte Kurden, bisher gut. Allerdings gäbe es eine Sicherheitsklausel, wenn die Zahl der Anträge explosionsartig steigt. Die Türkei verspricht, Abgewiesene zurückzunehmen.

© SZ vom 10.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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