Das Angebot aus Ankara:Macht sich die EU zur Geisel der Türkei?

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Zwingt er der EU seinen Willen auf? Recep Tayyip Erdoğan, hier 2014 in Köln. (Foto: dpa)

Ankara macht den Europäern eine verlockende Offerte, doch der Preis ist hoch. Lohnt es sich? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Daniel Brössler, Thomas Kirchner und Mike Szymanski

Gibt es eine Einigung?

Es gibt nur eine grundsätzliche Verständigung. Bis zum nächsten Gipfel am 17. März soll EU-Ratspräsident Donald Tusk Einzelheiten mit der Türkei aushandeln. Im Prinzip soll jetzt geschehen, was ein Thinktank, die Europäische Stabilitätsinitiative, erstmals im September gefordert hat und woran die Bundesregierung seit Monaten arbeitet: Alle Migranten, die in Griechenland trotz scharfer Grenzüberwachung noch ankommen, werden von einem bestimmten Zeitpunkt an in die Türkei zurückgeschickt. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden von der Türkei zurückgenommenen Syrer mindestens einen syrischen Flüchtling auf und baut dafür eine Luftbrücke nach Europa. So werde das Geschäftsmodell der Schlepper durchkreuzt, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Wer ein Boot besteige, lande wieder in der Türkei und damit auch ganz unten auf der Liste für die Neuansiedlung in der EU. Die Türkei erhält dafür weitere drei Milliarden Euro bis 2018 zur Versorgung der etwa 2,5 Millionen Syrer im Land. Auch fordert Ankara freien Zugang für alle Türken zum Schengen-Raum schon von Ende Juni an sowie die Eröffnung von neuen Kapiteln in den Beitrittsverhandlungen mit der EU.

Wie kam es zu diesem Ergebnis?

Am Donnerstag sprach EU-Ratspräsident Donald Tusk in Ankara mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Es ging um die Vorbereitung des EU-Türkei-Gipfels am Montag, vom weitgehenden Angebot der Türken war da noch keine Rede. Angeblich brachte Davutoğlu das erst am Sonntag mit nach Brüssel und besprach es am Abend fünfeinhalb Stunden lang mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Niederländer Mark Rutte. Die meisten Staats- und Regierungschefs wurden erst am Montag von dem Vorstoß überrascht, eigentlich gegen alle Gepflogenheiten in Brüssel. Normalerweise werden wichtige Vorhaben zunächst auf Botschafterebene diskutiert. Diese hatten den Gipfel vorbereitet, ohne etwas von dem neuen Paket aus Ankara zu ahnen.

Wie haben die EU-Partner reagiert?

Verärgert. Jedenfalls über das Verfahren. In vielen Ländern ist die Flüchtlingsfrage auch innenpolitisch brisant. Da lieben die Staats- und Regierungschefs keine Überraschungen. Tusk entschied sich trotzdem, das Programm umzuschmeißen und das türkische Angebot in den Mittelpunkt zu stellen. In mehreren Delegationen wurde allerdings der Verdacht geäußert, der Plan sei in Wahrheit im Kanzleramt ersonnen worden. Dem widersprach Merkel. Der Vorschlag sei "allein von der türkischen Seite gemacht worden", betonte sie.

Kann Merkel das als Erfolg verbuchen?

Merkel hätte eine Vereinbarung mit der Türkei wohl gerne bereits am Montag unter Dach und Fach gebracht. Doch aufgrund der Überraschungstaktik Davutoğlus war das unrealististisch. In der Abschlusserklärung begrüßten die Staats- und Regierungschefs "ausdrücklich die heute von der Türkei vorgelegten zusätzlichen Vorschläge zur Bewältigung der Migrationsproblematik". Die Chancen, dass die Vereinbarung beim Gipfel beschlossen wird, stehen gut.

Wichtig für Merkel ist, dass sie die Feststellung, die Balkanroute sei "geschlossen", aus der Gipfelerklärung streichen konnte. Es heißt nun: "Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute ist nun das Ende erreicht." Im Zweikampf Merkels mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann ist das ein Unentschieden.

Sind Ankaras Forderungen erfüllbar?

Die Visa-Liberalisierung ist das wichtigste Ziel der türkischen Regierung. Ihre Vertreter haben das ihren Bürgern versprochen und stellen die Visa-Freiheit schon als Faktum dar. Aber der Weg dahin ist weit und die Zeit knapp. Viele Bedingungen hat die Türkei nur teilweise erfüllt, manche noch gar nicht, etwa beim Datenschutz.

Tusk versprach, dass sich an den 72 Bedingungen der EU für eine Visa-Freiheit nichts ändern werde. Aber vermutlich wird Brüssel hier und da ein Auge zudrücken müssen. Die Beitrittsverhandlungen hingegen sind Ankara eher symbolisch wichtig. Echten Fortschritt gäbe es aber nur, wenn auch eine Lösung im Zypern-Konflikt gelänge. An eine baldige Mitgliedschaft denken weder EU noch Türkei.

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Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel: Die CSU kritisiert den Lösungsentwurf mit der Türkei, die Kanzlerin lobt ihn. Dafür wendet sie sich gegen das Nachbarland.

Verlangt die Türkei zu viel Geld?

Kaum jemand behauptet, die Forderungen Ankaras seien überzogen. Mehr als 2,5 Millionen Flüchtlinge beherbergt die Türkei. Bislang schulterte das Land den Großteil der Kosten allein. Diese beziffert die Regierung auf fast zehn Milliarden Dollar. Während Premier Davutoğlu in Brüssel verhandelte, sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, hoffentlich bringe er endlich Geld mit. Drei Milliarden Euro waren lange schon versprochen. Aber das Geld kam nicht in der Türkei an. Den Türken wäre ein Blankoscheck am liebsten. Die EU will aber Projekte und Hilfsorganisationen benannt haben. Das verzögert den Prozess.

Wer soll die Syrer aus der Türkei denn aufnehmen?

Dazu hat die Gipfelrunde nichts gesagt. Denn sonst wäre sofort der Streit ausgebrochen, der seit Monaten über die Verteilungsfrage tobt. Auch das Wort Kontingente wird nicht erwähnt. Berlin hofft, dass das deutsche Beispiel Schule macht und sich neben Ländern wie Portugal oder den Niederlanden weitere EU-Partner zur Aufnahme bereit erklären. Erwogen wird, einen Teil der 160 000, die eigentlich aus Griechenland und Italien umverteilt werden sollen, nun auf die Umsiedlung aus der Türkei anzurechnen.

Wäre der Deal mit der Türkei rechtlich in Ordnung?

Ja, sagt die EU-Kommission. Wenn Griechenland Flüchtlinge in die Türkei zurückschicke, die sie als sogenannten sicheren Drittstaat anerkannt hat, dann sei dies mit europäischen Regeln vereinbar und verstoße nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Das Konzept des sicheren Drittstaats bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die EU die Asylanträge von Flüchtlingen und anderen Migranten (aber nicht von Kurden) nach einer formalen Prüfung als unbegründet ablehnen kann. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nannte in der Nacht zu Dienstag die rechtliche Basis: Die Artikel 33 und 38 der Richtlinie 2013/32, in der es um Fragen des internationalen Schutzes geht. Artikel 38 zählt die Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen. Vorsorglich hatte die Kommission schon vor Wochen erklärt, auch die Tatsache, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention noch nicht auf Nicht-Europäer anwende, ändere daran nichts. Menschenrechtler sehen das ganz anders; ihrer Ansicht nach würde die Vereinbarung das individuelle Asylrecht abschaffen. "Ein sicheres Drittland ist die Türkei mit Sicherheit nicht", sagt die grüne EU-Abgeordnete Barbara Lochbihler. Über diese Frage werden mit Sicherheit der Europäische Gerichtshof oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befinden müssen.

Kann man der Türkei vertrauen?

In der Flüchtlingskrise stellt sich diese Frage aus Sicht der Türken andersherum: Kann man der EU trauen? Drei Milliarden Euro hatte sie versprochen, doch Ankara wartet seit Monaten auf das Geld. Europa verlangt von der Türkei, die Grenze zu Griechenland abzuriegeln, aber jene zu Syrien für Flüchtlinge offenzuhalten. Irritierende Signale kamen also nicht nur aus der Türkei, wo gerade Krieg gegen die PKK geführt und die Pressefreiheit mit Füßen getreten wird. Aus Sicht der EU kommt das Gefühl hinzu, dass Präsident Erdoğan die Lage ausreizt. Zwar lassen sich Hunderte Küstenkilometer nicht so einfach abriegeln, aber die türkische Polizei hat Schleusern die Arbeit auch nicht wirklich schwer gemacht. Der vereinbarte Nato-Einsatz zur Überwachung der Ägäis verzögerte sich. Die Türken meldeten ständig Bedenken an, obwohl der Kanzlerin die Zeit davonläuft. Noch hat die Türkei nicht wirklich gezeigt, dass sie Willens ist, ihrem Teil der Abmachung nachzukommen.

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Der Gipfel in Brüssel war kaum vorüber, da flog Griechenlands Premier Alexis Tsipras zum nächsten Spitzengespräch mit Davutoğlu. Am Dienstag trafen sie sich in der Küstenstadt Izmir. Das Treffen war schon länger geplant, dass Tsipras es bereits vor Beginn "historisch" nannte, hängt mit dem Angebot der Türken zusammen, alle Flüchtlinge, die Griechenland erreichen, zurückzunehmen. "Dieses Treffen könnte neue Wege öffnen, den Schleusern das Handwerk zu legen", sagte er. "Die Debatte wurde wieder auf die richtige Grundlage gestellt." Seit Monaten verlangen die Griechen, dass die Türkei die Grenze besser schützt und Flüchtlinge zurücknimmt. Wirklich geschehen war kaum etwas. Nun keimt bei Tsipras die Hoffnung, doch nicht mit der Krise alleine gelassen zu werden. "Zum Kampf gegen die Schleuser trägt auch die heutige Entscheidung der zuständigen Minister bei, die Zusammenarbeit der jeweiligen Küstenwachen grundsätzlich zu vertiefen", sagte Tsipras am Dienstagabend in Izmir. Die türkische Presse feiert Davutoğlu für sein Verhandlungsgeschick in Brüssel: Das Land bekomme mehr, als es geben müsse.

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Am Dienstagabend gaben Slowenien und Serbien bekannt, sie würden von Mitternacht an nur noch Migranten mit gültigen Papieren durchlassen.

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Dadurch sei die Westbalkan-Route faktisch geschlossen, teilte das serbische Innenministerium mit. So werden sich der Flüchtlingsströme vermutlich wieder Richtung Libyen und Italien bewegen. Dann werden wir uns darum kümmern, heißt es in Brüssel. Die EU wird nicht darum herumkommen, ihre Asyl- und Einwanderungspolitik vollständig zu reformieren und vor allem eine Lösung für das Problem der solidarischen Verteilung zu finden, etwa über ein Quotensystem. Am 16. März will die EU-Kommission zwei Vorschläge zur Reform der Dublin-Regeln vorlegen. Der eine belässt es beim System, dem ersten Ankunftsland die Zuständigkeit im Asylverfahren zu übertragen und ergänzt es durch eine permanente Verteilungsquote. Der zweite plädiert für eine große Reform, wonach sich, grob gesagt, künftig die EU in Gestalt einer europäischen Asylbehörde um alle wesentlichen Dinge kümmert.

© SZ vom 09.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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