EU:Fragen und Antworten: Die Konsequenzen für die Schweiz

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Brüssel (dpa) - Das Votum der Schweiz für eine strikte Begrenzung der Zuwanderung hat Europa schockiert. EU-Diplomaten bemühen sich in Brüssel um Schadensbegrenzung. Wie die Konsequenzen wirklich aussehen, dürfte erst in Monaten oder gar Jahren klar sein. Laut Initiative bleiben drei Jahre, bis das Gesetz in Kraft treten muss.

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Brüssel (dpa) - Das Votum der Schweiz für eine strikte Begrenzung der Zuwanderung hat Europa schockiert. EU-Diplomaten bemühen sich in Brüssel um Schadensbegrenzung. Wie die Konsequenzen wirklich aussehen, dürfte erst in Monaten oder gar Jahren klar sein. Laut Initiative bleiben drei Jahre, bis das Gesetz in Kraft treten muss.

Was versteht man unter Personenfreizügigkeit?

Dies ist ein grundlegendes Prinzip der Europäischen Union und Bestandteil eines Abkommens zwischen der Schweiz und der EU von 1999. Es gibt Schweizern und EU-Bürgern das Recht, innerhalb der Vertragsstaaten frei zu wohnen und zu arbeiten. Voraussetzung ist, dass sie einen gültigen Arbeitsvertrag haben, als Selbstständige arbeiten oder - falls sie keinen Job haben - ausreichende finanzielle Mittel besitzen. Nach EU-Angaben arbeiten und leben derzeit eine Million EU-Bürger in der Schweiz.

Wie steht die Schweiz zur EU?

Das Nachbarland Schweiz ist kein Mitglied der Europäischen Union, aber eng mit der EU verbunden, im Fachjargon nennt man dies „assoziiert“. Nach dem Freihandelsabkommen von 1972 entstanden mittlerweile 120 bilaterale Verträge, die bestimmte Bereiche regeln. Die Abkommen sichern der eidgenössischen Wirtschaft den Zugang zum EU-Binnenmarkt und die Zusammenarbeit mit der EU bei Forschung, Sicherheit, Asyl, Umwelt und Kultur. 1999 unterzeichnete die Schweiz ein Paket von sieben Abkommen mit der EU, die sogenannten Bilateralen I. Wichtigster Teil ist die Personenfreizügigkeit, das heißt, die Arbeitsmärkte wurden schrittweise geöffnet.

Welche Abkommen wären von einer Kündigung der Personenfreizügigkeit noch betroffen?

Alle sieben Verträge des bilateralen Pakets I von 1999, die der Schweiz die Öffnung des EU-Marktes garantieren. Denn die EU hat diese Verträge damals parallel unterzeichnet und mit einer sogenannten „Guillotine-Klausel“ verknüpft. Das heißt: Wird eines der Abkommen nicht verlängert oder gekündigt, werden auch die übrigen außer Kraft gesetzt. Grund dafür war, dass die EU der Schweiz ihren Markt nur mit einer Gegenleistung öffnen wollte. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt die Schweiz, „dass Rosinenpickerei im Verhältnis zur EU keine dauerhafte Strategie sein kann“.

Welche Konsequenzen muss die Schweiz fürchten?

Enorme - vor allem für Schweizer Unternehmen. Denn die sieben Abkommen machen auch den Export einfacher. So erleichtert die EU der Schweiz den Handel mit Agrarprodukten - etwa Käse - und die Zulassung von Produkten in Europa. Für die exportorientierte Schweiz ist Europa der wichtigste Markt; das Land verdient nach eigenen Angaben jeden dritten Franken im Austausch mit der EU. 2012 gingen 56 Prozent der Schweizer Exporte in die EU. Zudem würden auch die Verträge fallen, die der Schweiz den Zugang zu den Schienen- und Luftverkehrsmärkten der EU sowie EU-Forschungsprogrammen gewähren. „Das alles würde [der Schweiz] das Leben schwerer machen“, sagt ein EU-Diplomat. Brüssel droht zudem damit, unter bestimmten Umständen Gelder aus EU-Programmen für Forschung und Bildung zu streichen wie etwa für das Studenten-Austauschprogramm Erasmus Plus.

Geht es auch um das Schengener Abkommen?

Nein, rechtlich gesehen nicht. Das Schengener Abkommen von 1985 garantiert die Reisefreiheit zwischen mittlerweile 26 Staaten, darunter ist auch die Schweiz. An den Grenzen werden Reisende nur stichprobenartig oder bei besonderen Ereignissen kontrolliert. Allerdings stellt sich die Frage, wie die Schweiz die Freizügigkeit - das Grundprinzip des Schengen-Raums - beschränken will, ohne gegen die Schengen-Regeln zu verstoßen. Ein EU-Diplomat sagt: „Das geht in der Praxis gar nicht.“

Was bedeutet der Volksentscheid für deutsche Grenzgänger?

Laut Initiativtext müssen auch Grenzgänger und Asylsuchende bei den Kontingenten mitberücksichtigt werden. Das träfe rund 270 000 europäische Grenzgänger, die nach EU-Angaben täglich in die Schweiz zur Arbeit fahren. Die Furcht lautet, dass die Schweiz künftig inländisches Personal bevorzugt und Ausländer nur bei einem Mehrbedarf zum Zuge kämen.

Kann das Abkommen nachverhandelt werden?

Das hängt vom politischen Willen aller Beteiligten ab. Wenn die Schweiz der EU mitteilt, dass sie das Abkommen nicht mehr einhalten kann, dann muss die EU entscheiden, was sie macht. Ohne Einigung würden sämtliche 7 Verträge von 1999 ihre Gültigkeit verlieren. Allerdings ist davon auszugehen, dass beide Seiten dies vermeiden wollen. Zunächst muss der schweizerische Bundesrat entscheiden, welche Änderungen er der EU vorschlägt. Ein EU-Diplomat sagt: „Erst dann können wir entscheiden, ob dies gegen EU-Recht verstößt.“

Werden die Verhandlungen schwierig?

Mit Sicherheit ja. Denn das Prinzip der Freizügigkeit für EU-Bürger ist für die Europäische Union so grundlegend, dass es kaum verhandelbar ist. Die EU kann auch aus „innenpolitischen“ Gründen nicht akzeptieren, dass für EU-Bürger unterschiedliche Niederlassungsregeln in der Schweiz gelten. Die EU und die Schweiz verhandeln derzeit auch über eine Reform des Zinsbesteuerungsabkommens - möglicherweise ist auch dieses von den sich jetzt abzeichnenden Schwierigkeiten betroffen.

Was bedeutet das für rechte Parteien und die Europawahlen?

Im Moment ist das schwer zu sagen. Rechte Parteien, Europaskeptiker und Europagegner werden bei der Europawahl vom Mai aller Voraussicht nach deutlich zunehmen. Sie könnten das Referendum als Vorbild für eigene Forderungen sehen. Zugleich müssen die Regierungen der EU-Staaten bemüht sein, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, als setzten sie sich über eine demokratische Entscheidung hinweg. Dieser Eindruck könnte die Europagegner in der Wählergunst weiter stärker.

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