Türkei:Einer, der alle vor den Kopf stößt, hat nun selbst ein Problem

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Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei, während eines Besuchs in Dubai. (Foto: Ebrahim Noroozi/dpa)

Präsident Erdoğan in der Zwangslage: Er hat sich klar gegen die Verletzung der Unabhängigkeit der Ukraine ausgesprochen. Doch sein Land ist auf gute Beziehungen zu Russland angewiesen.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Wäre Recep Tayyip Erdoğan nicht Präsident der Türkei, sondern Seiltänzer, müsste man sich Sorgen machen, dass er doch einmal das Gleichgewicht verlieren könnte. Nun ist Erdoğan zwar kein hauptberuflicher Akrobat, er führt aber dennoch seit einigen Jahren einen ziemlich eigensinnigen Balanceakt auf im Umgang mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Bisher hat der türkische Spitzenmann dieses seltsame Spiel immer halbwegs unbeschadet überstanden.

Es ist ein raffiniertes, vielleicht aber auch nicht immer wirklich bis zum Ende durchdachtes Vorgehen. Dabei können Erdoğan ebenso wie Putin sich immer wieder Vorteile sichern, es fallen aber auch die risikoträchtigen Widersprüche auf. Infolge des Überfalls Russlands auf die Ukraine dürfte der türkische Balanceakt aber schwieriger werden. So besteht Ankara nun offiziell darauf, "keinerlei Schritte zur Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine zu akzeptieren". Dies könnte den Völkerrechtsbrecher Putin, der sein Nachbar- und Bruderland mit Krieg überzieht, weiter verärgern.

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Zumal Erdoğan Moskaus ebenfalls völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 auch schon kritisiert hatte. Dass der Schwarzmeer-Staat Türkei seinem Nachbarn Ukraine nicht nur seine gefürchteten Kampfdrohnen geliefert, sondern auch die gemeinsame Entwicklung und den Bau solcher Waffen begonnen hat, wird dem Kreml ebenso wenig gefallen haben.

Seltsam verteilte Rollen in Syrien

Erdoğans doppelgesichtiges Vorgehen trägt ihm immer wieder Kritik ein. Ob es der vor Kurzem erfolgte Kauf russischer S-400-Luftabwehrraketen durch das jahrzehntelange Nato-Mitglied Türkei ist, der Bürgerkrieg mit den seltsam verteilten Rollen in Syrien oder die Lieferung von Drohnen an Kiew: Erdoğan stößt von der Nato bis zu Moskau alle vor den Kopf und macht es dann doch auch wieder allen und sich selbst recht.

Vor dem Hintergrund des gerade erst beginnenden russisch-ukrainischen Kriegs könnte das nun aber sehr viel schwieriger werden. Der russische Überfall auf das Schwarzmeer-Land Ukraine zwingt die Nato, die eigenen Reihen enger zu schließen. Weitere türkische Drohungen etwa gegen den Nato-Partner Griechenland im östlichen Mittelmeer oder weitere Bestellungen russischer S-400-Raketenbatterien dürfen auf noch klarere Ablehnung stoßen als bisher.

Ankara wiederum ist in einigen Bereichen abhängig von Moskau. Die Türkei ist ein Land mit geringen Vorkommen an Erdgas und Rohöl und vor allem bei den Energie- und Rohstoffimporten auf Moskau angewiesen. 33 Prozent der rund 50 Milliarden Kubikmeter Erdgas, die das Land jährlich verbraucht, kommen aus Russland. Beim Erdöl sind es knapp 18 Prozent.

Auch die Lebensmittelsicherheit des 85-Millionen-Landes ist eng mit dem Verhältnis zu Moskau verknüpft. Die türkische Getreidelandwirtschaft liegt schon lange am Boden, knapp 65 Prozent des in der Türkei verarbeiteten Weizens kommen inzwischen aus den fruchtbaren Ebenen Russlands. Weitere fast 14 Prozent liefert die Ukraine.

Risiken für ein ohnehin polarisiertes Land

Sollte Erdoğan wegen des Russland-Ukraine-Kriegs in Streit mit Putin geraten, könnte das sowohl zu einer Energie- als auch zu einer Weizenkrise führen. Mit allen Risiken, die noch weiter anwachsende Energiekosten, steigende Brotpreise oder gar Brotknappheit in einem politisch polarisierten Land wie der Türkei bedeuten.

Zu guter Letzt baut die Türkei in Akkuyu bei Mersin am Mittelmeer mit russischer Hilfe und Expertise ihr erstes Atomkraftwerk. Über ein zweites wird verhandelt. Auch dies ist ein Hebel für Moskau, türkisches Wohlverhalten in der Ukraine-Frage einzufordern.

Wirtschaftlich abhängig ist das beliebte Reiseland auch beim Tourismus. Feriengäste aus Moskau, Petersburg oder Tomsk, aber auch aus Kiew oder Lemberg machen gut ein Drittel der Urlauber in der Ferienhochburg Antalya aus. Für andere türkische Touristenzentren lesen sich die Zahlen ähnlich, ein Viertel der Türkei-Besucher insgesamt sind Russen und Ukrainer. Bei einer früheren Krise zwischen Ankara und Moskau wegen des Syrienkrieges hatte Putin den russischen Tourismus schon einmal zum Erliegen gebracht - auch dies bleibt also in Zukunft ein Druckmittel Putins.

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