Erdbebenhilfe aus Duisburg:"Alle geben etwas"

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Drei, die Hilfe organisieren (v. li.): der Unternehmer Selcuk Kilic, Duisburgs OB Sören Link und Erkan Üstünay, der Vorsitzende des Integrationsrats. (Foto: Christian Wernicke)

Fast jeder fünfte Duisburger hat türkische Wurzeln. Deshalb ist das Engagement für die Opfer des Erdbebens in Südostanatolien hier besonders groß - und bringt Menschen im Ruhrpott einander näher.

Von Christian Wernicke, Duisburg

Alles, was Selcuk Kilic in diesen Tagen braucht, hält er in einer Hand: zwei Handys, auf eines von beiden starrt er eigentlich immer. Nur am Dienstag hat er die Geräte mal für eine ganze Stunde beiseite gelegt, er wollte - nach 48 Stunden ohne Schlaf - sich konzentrieren auf ein Interview im Lokalfernsehen. Prompt bekam er die Quittung: 420 Anrufe in Abwesenheit.

Auf dem iPhone mit der türkischen Nummer hat der 39jährige Duisburger die Schreie gehört. Am frühen Montagmorgen war das, als er kurz vor 5 Uhr vom Erdbeben erfuhr und mit den Verwandten telefonierte. Jeden Tag sieht er da nun die Bilder der Ruinen aus Südostanatolien. Sie treiben ihn um, Tag und Nacht. Und sie treiben ihn an. Er sagt: "Wir müssen was tun!"

Was, das zeigt Kilic auf seinem deutschen Smartphone. Sein Finger scrollt zum Foto von den ersten 1100 der insgesamt 2000 Heizlüfter, die ein türkischer Unternehmer gespendet hat und die ein LKW der Duisburger Feuerwehr am Mittwoch zum Flughafen transportierte - Ziel Gaziantep. Das ist jene Millionenstadt, die Kilic seine zweite Heimat nennt: "80 Prozent meiner Familie lebt dort."

Aus der Region kamen einst viele, um bei Thyssen oder Krupp zu schuften

Er hat die Telefonnummern beider Bürgermeister abgespeichert, im Adressbuch stehen reihenweise Kontaktdaten wichtiger Beamter, von da wie von hier. Seine Augen sind müde, aber Kilic lächelt, da er jetzt die endlose Liste der Spenden zeigt: mal 250, mal 2000 Euro, vom Automechaniker wie vom Architekten, vom Polizisten und vom Gemüsehändler oder von der Chefin eines Geschäfts für Brautkleider aus Marxloh. "Deutsche oder Türken, Muslime, Christen, Juden - alle geben etwas."

Etwa jeder Fünfte in Duisburg fühlt sich (auch) als Türke; die Stadtstatistik zählt unter 500 000 Bürgern exakt 70 130 "Menschen mit türkischem Hintergrund." Und aus jener Region, die jetzt von Erdbeben verwüstet wurde, kamen vor fünfzig, sechzig Jahren Tausende, um als Malocher bei Thyssen oder Krupp, bei Grillo oder Haniel zu schuften. Auch deshalb verbindet Duisburg und Gaziantep seit 2005 eine Städtepartnerschaft. Und deshalb wiederum steht nun Sören Link, der Oberbürgermeister von der SPD, an diesem Morgen in der großen Halle der Feuerwache 5 in Duisburg-Homberg. Und staunt.

Zweieinhalb Meter hoch stapeln sich die Kartons

Seit Mittwoch hat die Stadt Duisburg hier ihre zentrale Sammelstelle eingerichtet, nun türmen sich die Sachspenden. Zweieinhalb Meter hoch mussten die 30 Feuerwehrleute die Kartons stapeln, bis Mitternacht wurde sortiert: Wolldecken, Iso-Matten oder Kleinzelte, Damenbinden oder Windeln, Zahnbürsten, getrennt für Kinder und Erwachsene, Babynahrung - alles wird neu verpackt, mit großen Zetteln viersprachig beschriftet: Auf Deutsch, Türkisch, Arabisch und Englisch. "Draußen muss dran stehen, was drin ist - sonst lässt der türkische Zoll die Sachen nicht ins Land," erklärt ein Feuerwehrmann. Zehn Kilometer lang sei dort die Schlange, Tendenz steigend.

Die Homberger Feuerwehrhalle ist Duisburgs Haus für die Not. Vor drei Jahren haben sie hier Desinfektionsmittel gegen Corona gepanscht, vor elf Monaten lagerten hier Hilfsgüter für die inzwischen 7000 Geflüchtete, die Putins Krieg aus der Ukraine nach Duisburg vertrieb. Hinten stehen zentnerweise Restbestände: Zahnpasta und Zahnbürsten gehen jetzt nach Gaziantep.

Ja, es kämen viele Türken mit Spenden, bestätigt ein Feuerwehrmann: "Aber genauso kommen die deutsche Oma oder die Eltern, deren Kinder vom Taschengeld Zahnbürsten gekauft haben." Fast die Hälfte aller Spenden sind Kleidung, Schuhe, Spielzeug. Diese Kartons verschwinden vorerst in einen riesigen, feuerroten Container, auch die Box mit Teddybär und blauem Kuschel-Hai. "Momentan sind andere Sachen dringlicher," erklärt Sören Link. In ein paar Wochen werde alles in die Türkei nachgeliefert, "versprochen!"

"Diese Krise schweißt uns Duisburger zusammen."

Gleich am Montagmorgen hat Link angeordnet, 500 Feldbetten aus städtischen Depots in die Türkei zu schicken. Für ein Foto stellt sich der SPD-Mann jetzt zwischen Selcuk Kilic, den deutschen Türken der Tat, und Erkan Üstünay. Der ist Vorsitzender des Integrationsrats und glaubt: "Diese Krise schweißt uns Duisburger zusammen." Link nickt, im Gespräch sagt er später: "Das ist das Ruhrgebiets-Gen: Nicht reden, sondern machen." Ja, räumt er ein, mit 180 Nationalitäten in einer Stadt laufe "nicht alles reibungslos - aber jetzt merkt man, wie viel Verbindendes da ist." Das mache ihn "unglaublich stolz."

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Freitagmittag finden die Menschen dann die Ruhe zum Gebet. Zum Gedenken an die Toten. Mehr als tausend Gläubige drängen in die Merkez-Moschee in Marxloh. Die Muslime stehen Schlange, um Bargeld zu spenden. Schon am Donnerstag waren binnen 18 Stunden 23 000 Euro zusammengekommen, gezählt und mit Gummibändern gebündelt. 120 Euro genügen, um einen Generator zu sponsern - weshalb am Nachmittag ein Sattelschlepper mit 500 Geräten vom Parkplatz rollte.

Mag sein, dass sich - nach 3500 Kilometer Autofahrt - die Dinge dann fügen in der Winterkälte von Gaziantep. Ein Stromgenerator aus Duisburg könnte Heizlüfter antreiben - und von denen könnte auch dank Selcuk Kilic und seinen zwei Handys mancher aus Duisburg stammen.

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