Krieg:Die ukrainische Eisenbahn ist nicht zu stoppen

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Zerstörter Zug in der ostukrainischen Kleinstadt Trostjanez, nahe der Grenze zu Russland. (Foto: FADEL SENNA/AFP)

Sie transportiert Menschen auf der Flucht, ausländische Staatschefs, Panzer, Getreide und humanitäre Güter. Sie ist dabei überraschend zuverlässig - obwohl Züge, Bahnhöfe oder Gleise täglich von den Russen bombardiert werden.

Von Florian Hassel, Kiew

Wenn die Geschichte der Eisenbahnen im 21. Jahrhundert geschrieben wird, dürfte Oleksandr Kamyschin ein Platz darin sicher sein. Kein anderer Eisenbahnchef hat wohl in kürzerer Zeit mehr Kilometer auf Schienen hinter sich gebracht: Seit Russland am 24. Februar seinen Großangriff auf die Ukraine begann, fährt Kamyschin fast täglich Hunderte Kilometer durchs Land, um die Lebensader der Ukraine am Laufen zu halten.

119 Tage alt ist der Krieg, Millionen Ukrainer sind mit der Eisenbahn Ukrsalisnyzja vor dem Krieg geflohen. Während Russland ukrainische Häfen blockiert und Benzin und Diesel knapp sind, hält die Eisenbahn das Land am Leben. Weit über 100 Tage hat Kamyschin seit dem 24. Februar auf Schienen verbracht: knapp zwanzig Fahrten allein nach Charkiw in der Ostukraine, je ein Dutzend nach Dnipro oder in die Hafenstadt Odessa und so weiter. Seine Frau und seine zwei kleinen Söhne hat er nur bei Stippvisiten gesehen.

"Was früher die Agrarindustrie für uns war, wird künftig die Rüstungsindustrie sein": Der ukrainische Minister für strategische Industrie, Oleksandr Kamyschin. (Foto: Sergei Supinsky/AFP)

Mit seinen erst 37 Jahren und einem scharfen Irokesenhaarschnitt kommt Kamyschin eher wie der Impressario eines Rockclubs rüber als wie der Chef eines Großunternehmens. Kamyschin reist meist nachts, mit sechs engen Mitarbeitern. Wohin die Reise geht, erfahren selbst Eisenbahnmitarbeiter oft erst kurz vor der Abfahrt: Kamyschin wäre für die Russen ein bevorzugtes Ziel.

231 000 Eisenbahner trotzen dem Krieg

"Bisher können wir alle Aufgaben erfüllen - den Passagiertransport, die Lieferung humanitärer Güter und den Transport ausländischer Regierungschefs und Diplomaten", sagt Kamyschin bei einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung im Kiewer Hauptbahnhof. Dass die 231 000 Eisenbahner immer noch arbeiten, gehört zu den Überraschungen dieses Krieges. Selbst als zu Kriegsbeginn mancherorts Telefon oder Mobilfunknetz ausfielen, konnten die Eisenbahner kommunizieren: Ein geschlossenes Telefonsystem aus sowjetischer Zeit verbindet bis heute alle rund 1450 Bahnhöfe der Ukraine miteinander.

"Kein Tag vergeht, an dem die Russen nicht mehrere Raketen oder Bomben auf die Eisenbahn abwerfen", sagt Kamyschin. Weit über tausend Mal wurde die Bahn schon getroffen: Gleise, Stromleitungen, Verteiler, Umspannwerke, wichtige Brücken. "Wir können fast alle Schäden schnell reparieren und den Verkehr fortführen. Manchmal finden wir eine Umfahrung, bis der Schaden repariert ist." Die Zahl der Angriffe nimmt dem Eisenbahnchef zufolge weiter zu, die wenigsten werden bekannt. "Wir teilen Angriffe nur mit, wenn sie den Passagierverkehr aufhalten oder sich auf das Leben der Ukrainer auswirken."

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Oder, wenn die Russen wie am 5. Juni ein Reparaturwerk bei Kiew mit vier Raketen zerstören und behaupten, hier seien Panzer repariert worden. "Wir haben 140 ausländischen Journalisten vor Ort gezeigt, dass es dort keinen einzigen Panzer gab." Gleichwohl: Die Eisenbahn spielt auch beim Transport westlicher Waffen und anderer Ausrüstung für die ukrainische Armee eine zentrale Rolle -darüber spricht der Eisenbahnchef nicht.

257 Mitarbeiter verletzt, 177 getötet

Vor der russischen Invasion war das Image der ukrainischen Bahn "nicht das beste", gibt Kamyschin zu. Sie galt als veraltet, überbesetzt, von Korruption durchzogen und behandelte Passagiere oft eher als störende Nebensache. Jetzt sind die Eisenbahner nationale Helden. 257 von ihnen sind seit Kriegsbeginn verletzt worden, 177 gestorben, 16 allein vergangene Woche.

Es sind herzzerreißende Schicksale, darunter das der 48 Jahre alten Natalja Babitschewa, die am 12. März mit ihrem ebenfalls für die Bahn arbeitenden Mann Andrij per Zug Kinder aus dem Donbass in die westliche Ukraine evakuieren sollte. Der Zug kam unter russisches Feuer, Babitschewa wurde von Granatsplittern getroffen - und starb an Blutverlust in den Armen ihres Mannes, berichtete der Kyiv Independent.

Kamyschin kommt aus dem Finanzbereich und wurde erst im August 2021 Eisenbahnchef, nachdem er Präsident Selenskij und seinen Ministern ein Reformkonzept für den maroden Betrieb präsentierte. Das ist in der Ukraine noch schwieriger als anderswo. Nicht nur ist das 22 000 Kilometer lange Schienennetz im zweitgrößten Land Europas vielerorts ebenso veraltet wie Züge, Lokomotiven und Technik.

Gütertransporte schrumpfen seit Jahren

Für die Eisenbahn der Ukraine waren Passagiere traditionell zweitrangig; ihr Transport bringt nur Verluste - anders als der von Kohle, Eisenerz oder Getreide. Doch hier ging der Umfang seit zehn Jahren zurück, sei es, weil sich die Beziehungen zu Russland verschlechterten oder ukrainische Kohlebergwerke und Stahlwerke in die Krise gerieten.

Schon vor Kriegsbeginn gelang dem jungen Bahnchef eine Trendumkehr: Die Regierung genehmigte eine satte Erhöhung der teils noch aus Sowjetzeiten stammenden Frachttarife und gab Geld für Investitionen. Kamyschin konnte etwa drei neue Diesellokomotiven kaufen - "vorher hatte die Eisenbahn zehn Jahre lang keine neuen Lokomotiven bekommen".

Am 24. Februar war es mit der Modernisierung erst einmal vorbei. Wie hoch die Schäden für die Bahn sind, will Kamyschin nicht sagen. "Das berechnen wir, wenn wir nach dem Krieg über einen Marshallplan zum Wiederaufbau der Ukraine diskutieren."

60 Millionen Tonnen Getreide für die Welt

Wann das sein kann, ist freilich ebenso offen wie ein Ende der Blockade ukrainischer Häfen: Über die lief bisher nicht nur ein Großteil der Wareneinfuhr, sondern auch die Ausfuhr von Kohle sowie Stahl aus der Ukraine und vor allem von bis zu 60 Millionen Tonnen Getreide jährlich. So lange die Blockade andauert, soll die Eisenbahn das praktisch Unmögliche schaffen - und das Getreide der Ukraine auf der Schiene nach Westeuropa und in die Welt bringen.

Theoretisch könnten Kamyschin und seine Leute das schaffen. "Im November haben wir einen Allzeitrekord aufgestellt und in einem Monat 4,1 Millionen Tonnen Getreide per Bahn transportiert", sagt Kamyschin. Hochgerechnet würde das für die gesamte Getreideernte ausreichen - allerdings nur in der Theorie. Denn im November fuhren die Getreidewagons vor allem zur Löschung in die - jetzt gesperrten - ukrainischen Häfen.

Der Landweg nach Polen, Ungarn, Rumänien oder in die Republik Moldau aber bietet Fallstricke, von denen die im Vergleich zu Westeuropa größere Spurbreite ukrainischer Eisenbahnen (ein Relikt aus Zarenzeiten) nur eines ist: Jeder Zug muss in einer mehrstündigen Prozedur an der Grenze umgerüstet werden, bevor er etwa nach Polen weiterfahren kann. Im Mai erreicht die Abfertigungszeit an mancher Grenze bis zu einen Monat, so die EU-Transportkommissarin.

Das ungelöste China-Problem

Warschau und Kiew haben sich geeinigt, dass die Ukrainer künftig rund 14 000 Getreide-Güterwaggons mit schmaler Spurbreite über die Grenze schicken dürfen. Freilich müssen diese Waggons zum großen Teil erst gebaut werden. Bis Oktober hoffen die ukrainischen Eisenbahner, etwa über Polen im Monat 365 000 Tonnen Getreide zu transportieren, fast ebenso viel über Rumänien - wenn es den Ukrainern gelingt, die südwestlich von Odessa nach Rumänien führende, Ende Mai von Russland in Trümmer geschossene Bilhorod-Dnistrowskyj-Eisenbahnbrücke zu reparieren. "Das wird Monate dauern", gibt Kamyschin zu.

Selbst wenn Kamyschins Eisenbahner schnell mehr Getreide transportieren könnten, wären längst nicht alle Probleme gelöst. "23 Millionen Tonnen unserer Getreideexporte waren Mais für China - die lieferten wir über unsere Häfen. Wenn wir jetzt die Häfen in Rumänien nehmen, dazu die baltischen Häfen, die polnischen, Bremen und Hamburg- dann können alle diese Häfen zusammen gerade zwei Millionen Tonnen ukrainisches Getreide monatlich weiterliefern", so Kamyschin. "Wir brauchen aber fünf Millionen im Monat." Wie das zu schaffen sein soll, darauf haben auch die ukrainischen Eisenbahner bisher keine Antwort.

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