Für eine glaubhafte Solidaritätsbekundung klangen die Worte des Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel etwas knapp. Generalsekretärin Andrea Nahles habe für ihre Entscheidung in dem Parteiausschlussverfahren gegen den früheren Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin seine Unterstützung, sagte Gabriel vor Ostern. Nach Ostern, als sich manche Sozialdemokraten schon über die öffentliche Zurückhaltung des Parteichefs gewundert hatten, sprach er immerhin von "voller Rückendeckung". Diese insgesamt eher reservierten Formulierungen darf man durchaus als Zeichen dafür werten, dass es in der Causa Sarrazin weiter Differenzen zwischen den beiden wichtigsten Protagonisten der Bundes-SPD gibt.
Das war schon zu Beginn des SPD-Sarrazin-Spektakels der Fall, in jenen Septembertagen, als der Ex-Bundesbankvorstand sein Buch "Deutschland schafft sich ab" auf den Markt brachte. Gabriel, der sich noch kurz zuvor äußerst skeptisch über die Frage eines Parteiausschlusses gezeigt hatte, war nach Sarrazins Äußerungen über "jüdische Gene" zur allgemeinen Überraschung für einen Rauswurf. Nahles, die qua Amt das Prozedere eines Parteiverfahrens kennt und damit um die hohen Hürden für einen Ausschluss weiß, mahnte im Führungskreis zu Zurückhaltung. Doch sie konnte sich nicht durchsetzen: Präsidium und Vorstand der SPD waren in jenen aufgeregten Tagen der Ansicht, zum Rauswurf gebe es keine Alternative.
Und es ist auch kein Geheimnis, dass Gabriel nicht glücklich darüber war, dass Nahles ihn in der Sitzung der Berliner Kreisschiedskommission am Gründonnerstag nicht angerufen hatte, bevor sie der nun so umstrittenen Einigung mit Sarrazin zustimmte. Mag sein, dass er sich übergangen fühlte. Aber Nahles hatte Prokura - und Gabriel letztendlich keinen besseren Handlungsvorschlag.
Beide hatten, auch das ist verbrieft, vor dem Gründonnerstag ausführlich darüber gesprochen, welche Alternativen der SPD in dem unangenehmen Prozess offenstehen und hatten nach Darstellungen aus dem Willy-Brandt-Haus auch versucht, Sarrazin zu einer gütlichen Einigung zu bewegen, allerdings vergeblich. Dass sich Sarrazin am Gründonnerstag zu einer Erklärung bereitfand, hatten beide aber offenkundig nicht einkalkuliert. So wurde erst Nahles von Sarrazin überrascht und dann Gabriel von seiner Generalsekretärin. Und im wechselvollen Verhältnis der beiden ist in diesen Tagen wieder einmal ein kleineres Tal erreicht.
Gut eineinhalb Jahre stehen Gabriel und Nahles nun an der Spitze der Bundes-SPD. Ihre Beziehung ist in ihren Höhen und Tiefen überraschend stabil. Überraschend deshalb, weil sich die beiden bis zur Bundestagswahl vom 27. September 2009 in tiefer Antipathie verbunden waren und jahrelang kaum ein Wort miteinander gesprochen hatten. Inzwischen arbeiten sie professionell zusammen, gelegentlich meinen Zeugen auch Anzeichen von Vertrauen zu entdecken.
Vergangenen Herbst war das nicht sehr oft der Fall. Da hörte man selbst durch geschlossene Türen lautstarke Auseinandersetzungen. Die Stimmung muss inzwischen aber wieder besser geworden sein, Brüllereien jedenfalls wurden zuletzt nicht mehr vernommen. Ohne größeres Hin und Her konnte Nahles den Parteivorsitzenden am Jahresanfang überzeugen, dass man seine Idee, alle SPD-Spitzenämter in Urwahlen aller Mitglieder zu bestimmen, besser nicht in die Tat umsetzen sollte. So geht es oft zu an der SPD-Spitze: Gabriel hat Ideen - und an Nahles ist es, sie in die Tat umzusetzen, so sie denn für gut befunden werden. Manchmal aber ändert sich auch die Bewertung von Ideen. Das Ausschlussverfahren gegen Sarrazin fand die SPD-Spitze vor einem guten halben Jahr noch sehr klug. Inzwischen halten es fast alle für einen Fehler.