Die Brexit-Nacht:Wenn Jubel in Wut umschlägt

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Anhänger der Anti-Brexit-Kampagne verfolgen in der Nacht zum Freitag die Auszählung der Stimmen. (Foto: Getty Images)

Als der Ukip-Chef Nigel Farage den Sieg verkündet, fliegt ein Bierglas gegen die Leinwand im Londoner Pub "The Lexington". Über eine Nacht voller Schmerzen.

Von Thorsten Denkler, London

Um Punkt vier Uhr fliegt ein Bierglas gegen die Leinwand. "Fuck you, Nigel! Fuck you!", dröhnt es aus Dutzenden Kehlen. Oben auf der Leinwand ist Nigel Farage erschienen. Der Chef der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party, der britischen Unabhängigkeitspartei Ukip. Farage ist der Mann, der ihnen das hier eingebrockt hat.

"Heute feiern wir unseren Unabhängigkeitstag!", feuert er seine Anhänger an. Es klingt wie eine Provokation hier im "The Lexington" in Pentonville nördlich der Londoner City. Farage hat sich und seine Leave-Bewegung zum Sieger dieser historischen Nacht erklärt. Noch 20 Minuten bevor die großen Fernsehsender sich festgelegt haben, dass es nicht mehr reichen wird für die Remain-Seite. Für die, die in der Europäischen Union bleiben wollen. Mehr als 600 000 Stimmen Vorsprung hat die Leave-Seite zu diesem Zeitpunkt.

Im Londoner Pub "The Lexington" feiern die Menschen erste Siege der Remain-Seite. Vergeblich. (Foto: Thorsten Denkler)

Viereinhalb Stunden später öffnet sich die schwarz glänzende Tür der Downing Street 10, Amtssitz des Premierministers. David Cameron tritt heraus, seine Frau Samantha begleitet ihn. Zwei, drei Schritte sind es bis zum Pult.

Samantha tritt zur Seite. Dann spricht Cameron aus, was viele erwartet haben ( hier ein Video vom Rücktritt). In einem "gigantischen demokratischen Akt" hätten die Briten entschieden. Ihr "Wille muss respektiert werden". Er habe mit seinem Herzen und seiner Seele gekämpft, wie er es für richtig gehalten habe. Er gratuliert der Leave-Seite zum Sieg.

Jetzt müssten die Verhandlungen mit der Europäischen Union um den Austritt vorbereitet werden. Nur werde er nicht der Kapitän sein, der das Schiff in Richtung Austritt steuert. Er werde sein Amt zur Verfügung stellen.

Nicht sofort, keine Eile. Aber spätestens bis zum Beginn des Parteitages der Konservativen im Oktober müsse ein neuer Premierminister gefunden werden. Und erst dann sollen auch die Verhandlungen mit der EU beginnen.

Am Ende der Erklärung bricht ihm kurz die Stimme weg. Seine Frau greift seine Hand, sie gehen ins Haus zurück. Die Tür der Downing Street 10 schließt sich.

Alkohol bis vier Uhr früh, ab fünf nur noch Kaffee

Elf Stunden zuvor beginnt im "The Lexington" ein fröhlich-gespannter Donnerstagabend. Die letzten Umfragen deuten einen knappen Sieg der Remain-Bewegung an. 52 zu 48 Prozent, so könnte es ausgehen.

Rappelvoll ist es, gut eine halbe Stunde nachdem die Wahllokale am Donnerstagabend geschlossen haben. Wer noch hinein will in den Pub an der Ecke Penton Street, Pentonville Road, den leiten die Türsteher sofort nach oben in den ersten Stock. Da sind noch ein paar Plätze frei.

Es ist einer von diesen Läden, in denen die Schuhsohlen am Boden kleben bleiben. Rinderschädel hängen wie kultische Insignien an den Wänden. Ein Kronleuchter überspannt den Schankraum, als wäre es seine ureigene Aufgabe, jeden einzelnen Sitzplatz in schummriges Licht zu tauchen. Unendlich viele Sorten Bier, Scotch und Whiskey sind im Angebot. Wer nach einem Tee fragt, wird angeschaut, als hätte er Wachteleier im Glas geordert. Und die würde es sicher noch eher geben als Tee. Kein Laden, der in Tageslicht getaucht werden sollte. Das könnte frustrierend sein.

Rinderschädel hängen wie kultische Insignien an den Wänden des Londoner Pubs "The Lexington". (Foto: Thorsten Denkler)

Alle stellen sich auf eine lange Nacht ein. Ein Zettel liegt aus: Alkohol gibt es bis vier. Bis 4:30 Uhr bitte austrinken. Ab fünf Uhr in der Früh nur noch Kaffee.

23:50 Uhr Ortszeit. Das erste Ergebnis ist da. Gibraltar, die britische Bastion an der Südspitze Spaniens, verkündet das Ergebnis: 823 Stimmen für Leave. 19 322 für Remain. Es bricht ein Jubel aus, als hätte Wayne Rooney gerade das englische Siegtor im Finale der Fußball-Europameisterschaft geschossen. Arme werden hochgerissen. Andere prosten sich zu.

Einer zeigt mit beiden Zeigefingern auf sein blaues T-Shirt mit dem roten Remain-Schriftzug, als hätte er da gerade sehr überraschend einen Schatz entdeckt. Aber, hey, das war nur Gibraltar. Zusammen kaum mehr als 20 000 Stimmen. Um zu gewinnen müssen mehr als 18 Millionen Stimmen zusammenkommen.

Nigel Farage bereitet seine Anhänger auf eine Niederlage vor. Er scheint nicht an einen Sieg zu glauben. Und sagt das auch noch öffentlich. "Wie auch immer diese Schlacht ausgeht", sagt er, "danach ist es nicht vorbei. Wir werden diesen Krieg gewinnen."

"Shut up, you dickhead!", brüllt eine Frau im Blümchenkleid die Leinwand an, halt´s Maul, du Blödmann. Zustimmendes Genicke und Gegrunze aus allen Ecken des Raumes. Nein, Farage wird hier keine Freunde finden. Farage hört nicht auf zu reden. Als er gerade über das Establishment herzieht, geht die BBC raus. Es gibt Wichtigeres. Auch das wird bejubelt.

Der erste Dämpfer kommt um Mitternacht. Das Ergebnis aus Newcastle ist da. 50,7 Prozent für Remain. Das ist knapp. Viel zu knapp. Die Stadt im Norden Englands hätte mit 60, 70 Prozent vorn sein müssen. Die Leute im "The Lexington" wissen das. Es wird still.

Einer ist hier, der klatscht, wenn die Leave-Seite punktet. Ein Jungspund, keine 25 Jahre alt, Brille, Sakko. Passt nicht in diesen Laden. In der ersten Reihe sitzt er, Füße auf der Bühne, Blick auf die Leinwand. Sunderland geht mit 82 000 zu 52 000 Stimmen ans das Leave-Lager. Er klatscht. Seine Sitznachbarn würden ihn wohl am liebsten verhauen, so starren sie ihn an.

So geht es weiter. Remain gewinnt die Bezirke, die es gewinnen müsste. Aber nicht deutlich genug. Leave gewinnt die Bezirke, die es gewinnen müsste, aber höher als erwartet. Und gewinnt noch eine Handvoll Bezirke dazu, die eigentlich klar unter Remain verbucht worden waren.

"Depressing" ist ein Wort, das jetzt die Runde macht. Das britische Pfund stürzt gerade ab. Sechs Prozent gegenüber dem Dollar verloren. Innerhalb von Minuten, bemerkt ein Finanzexperte auf der Leinwand. Das habe er auch noch nicht erlebt. Um 2:11 Uhr kommt die erste Eilmeldung der Nachrichtenagenturen: Das Pfund ist noch weiter abgerutscht.

Alle hoffen auf London. 8,5 Millionen Einwohner. Da muss doch noch was drin sein. London liefert hohe Siege für die Remain-Seite. 70 zu 30, 60 zu 40. Besser als gedacht. Aber nicht genug, um die Siege der Leave-Seite einzufangen.

Nach den Londoner Bezirken hat die Remain-Seite einen Vorsprung von knapp 100 000 Stimmen. Wenige Minuten später ist er auf 20 000 zusammengeschrumpft. Eine halbe Stunde später führt die Leave-Seite mit 100 000 Stimmen, dann mit 200 000 Stimmen.

Der Alkohol fließt. Die Türsteher schaffen den ein oder anderen Volltrunkenen raus. Andere ordern weiter, Pint um Pint.

Bezirk um Bezirk poppt an der Leinwand auf. Hellblau wir zur dominierenden Farbe. Der Farbe, mit der die BBC die Leave-Seite kennzeichnet. Der Statistikexperte der BBC lehnt sich vorsichtig aus dem Fenster. Leave sei jetzt sein Favorit auf den Sieg. Auch wenn es natürlich noch Überraschungen geben könne.

Die gibt es aber nicht.

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Um 3:33 Uhr geht der Beamer plötzlich aus. Kein Bild mehr, kein Ton. Aber es gibt eh kaum noch etwas zu erwarten. Eine Frage zum Ergebnis? Der Typ mit dem blauen Karohemd und den Sneakers an den Füßen schaut aus glasigen Augen zurück. Er schüttelt den Kopf, wendet sich ab und stellt sich an eine Säule. Auf Brusthöhe trägt er eine rote Schleife. Remain, steht drauf.

3:37 Uhr. Edinburgh stimmt für Remain. Mit 70 Prozent. Es hilft nicht mehr. Leave ist mit 500 000 Stimmen vorne.

Jetzt wird noch für den Bezirk Waltham Forest geklatscht. 59 zu 41 Prozent - nicht so gut wie erwartet für Remain.

Einige verlassen das "Lexington". Wie Fans, die in der 80. Minute aus dem Stadion gehen, weil ihre Mannschaft 0:5 zurückliegt. Hie und da ein aufmunterndes Schulterklopfen. Andere sitzend in einer Ecke, Hand an der Stirn. Fassungslosigkeit.

3:50 Uhr. Das Licht wird auf- und abgedimmt. Das Zeichen für die letzte Runde. Draußen gibt Andrew aus London einem Fernsehteam ein Interview: "Ich bin enttäuscht von dem Ergebnis. Aber ich bin auch stolz auf unsere Demokratie", sagt er. Ein unverbesserlicher Optimist offenbar.

Zehn Minuten später landet das Bierglas an der Leinwand. Um 4:16 Uhr die nächste Eilmeldung: Das Pfund ist auf dem tiefsten Stand seit 1985. Zeit, zu gehen.

Es wird schon hell. Die Sonne geht auf über London. Ausgerechnet. Am Donnerstag, dem Wahltag, hat es noch geschüttet wie aus Eimern. In wenigen Stunden ist so viel Regen gefallen wie sonst in einem Monat nicht. U-Bahn-Strecken wurden überflutet.

Und jetzt Sonne. Nach dieser Nacht. Wenn da der liebe Gott seine Hand im Spiel hat, dann hat er einen wirklich miserablen Humor.

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