Merkel zur deutschen Einheit:"Wir werden sehr viel Kraft aufbringen müssen"

Lesezeit: 4 min

Der Kanzlerin fielen die Einschränkungen in der Corona-Krise nicht leicht - auch aufgrund ihrer Erfahrungen aus der DDR. (Foto: REUTERS)

Die Kanzlerin lobt die Kreativität der Ostdeutschen, die Grüne Göring-Eckardt erinnert an Peter Maffay und AfD-Chef Chrupalla an mehr Mitmenschlichkeit: Zum Jahrestag der Einheit bietet die Politik manch Überraschendes.

Von Stefan Braun, Berlin

Jahrestage, auch wichtige, machen es einem manchmal gar nicht so einfach. Insbesondere dann, wenn so vieles andere gerade wichtiger erscheint als das Erinnern. Der Kampf gegen die Corona-Krise zum Beispiel; oder der Kampf um die Einheit Europas. Doch obwohl diese Krisen den 30. Jahrestag der deutschen Einheit überlagern, haben manche Politiker und Politikerinnen unmittelbar vor dem Jubiläum an diesem Samstag überraschende Blicke auf das Land geliefert.

Vorneweg ist die Kanzlerin zu erwähnen, die in den vergangenen Jahren nicht allzu häufig über den Osten, den Westen und die Geschichte der Menschen gesprochen hat. Dieses Mal aber ist das anders. In einem Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland hat Angela Merkel die Leistungen gerade der Menschen in Ostdeutschland hervorgehoben. Es sei an der Zeit daran zu erinnern, "wie viele Menschen aus der DDR ihre Fähigkeiten im vereinten Deutschland eingebracht haben". Menschen, die "etwas geschafft und viel geleistet haben", so die Kanzlerin, die es als erste Ostdeutsche politisch ganz nach oben geschafft hat. "Wir haben gelernt zu improvisieren und wir haben uns angesichts vieler Mängel immer gut organisiert", sagte Merkel. "Das sind Fähigkeiten, die einem auch heute helfen."

Leserdiskussion
:30 Jahre Deutsche Einheit: Was eint Deutschland heute, was trennt es noch?

Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung von Ost und West sind Spuren der Teilung noch spürbar. Naht das Einheitsjubiläum, werde routiniert gewürdigt und anerkannt, kommentiert SZ-Autorin Ulrike Nimz. Doch die Rede von der Lebensleistung verkleistere die Auseinandersetzung mit politischen Wirklichkeiten.

Neben das Lob rückte Merkel auch Verständnis. Und zwar dafür, dass sich manche im Osten bis heute als Bürger zweiter Klasse fühlten. Dafür gebe es manche Ursache, manchen Auslöser, "verpasste Lebenschancen zum Beispiel". Nicht nur, aber wohl auch deshalb bleibt für die Kanzlerin der Zusammenhalt eine große und schwierige Aufgabe. "Wir werden sehr viel Kraft für einen solchen Zusammenhalt aufbringen müssen", mahnte Merkel in dem Gespräch. Und fügte noch hinzu, dass es dabei längst nicht mehr nur um den Zusammenhalt zwischen Ost und West gehe. "Ein Land im 21. Jahrhundert zusammenzuhalten, heißt, ein bestimmtes Maß an Gerechtigkeit für alle zu haben."

Ungewöhnlich offen erinnerte Merkel außerdem daran, dass sie sich im Frühjahr 2020 an ihre eigene Kindheit erinnert fühlte. Gemeint sind jene harten Anti-Corona-Maßnahmen des Frühjahrs, mit denen Merkel und die gesamte Regierung in einer ersten Reaktion auf Corona die Ausbreitung des Virus zu verhindern versuchten. "Meine Kindheit und Jugend waren mir in diesem Moment sehr präsent", sagte die CDU-Politikerin. "Dass ich den Menschen sagen musste, dass man nur als ein Haushalt oder zu zweit auf der Straße sein durfte, dass keine Veranstaltungen stattfinden durften, dass Kinder ihre Eltern nicht im Seniorenheim besuchen durften - das waren gravierende Einschränkungen." Angesichts solcher Sätze ahnt man, warum Merkel erst dieser Tage wieder zur Vorsicht mahnte; eine Wiederholung dieser scharfen Maßnahmen will sie unter allen Umständen vermeiden.

"Darauf müssen die erfolgsverwöhnten Demokratien eine bessere Antwort finden"

Fröhlicher, leichter, optimistischer hat sich unmittelbar vor dem Jahrestag auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eingelassen. Die Deutschen hätten gerade zu Jahrestagen die Neigung, vor allem zu fragen, was nicht gut gelaufen sei. Das wolle er doch gerne einmal hinterfragen, betonte Schäuble. Verglichen mit vielen anderen Ländern nämlich gehe es Deutschland doch "ziemlich gut". So gut sogar, dass "das Marsmännchen", wenn es von oben auf die Welt und also auf Deutschland schaue, "nicht erkennen würde, dass Berlin durch eine Mauer geteilt war".

Baustellen und Probleme gäbe es, aber die hätten weniger mit der Wiedervereinigung und mehr mit der Krise westlicher Demokratien insgesamt zu tun. Die nämlich hätten noch keine adäquaten Antworten auf die aktuell größten Herausforderungen gegeben, so Schäuble zum Fernsehsender RTL. Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung - all das erschüttere die Menschen. "Darauf müssen die erfolgsverwöhnten Demokratien eine bessere Antwort finden."

Über die Einheit diskutiert hat am Freitag auch der Bundestag. Im Rahmen einer gut zweistündigen Debatte lobte FDP-Chef Christian Lindner den Mut und die Unerschütterlichkeit der friedlichen Demonstranten in der DDR. "Die deutsche Einheit war kein Wunder", das vom Himmel gefallen sei, so der FDP-Chef. "Es war die Konsequenz der ersten erfolgreichen und unblutigen Revolution ins unserem Land." Diese tief sitzende Erfahrung werde "unser Land immer mit Freiheitsbewegungen in anderen Ländern verbinden".

Auch Dietmar Bartsch, Co-Chef der Linken-Fraktion, lobte die "friedliche Revolution", nannte sie ein "historisches Glück" - und verwies auf die Lage in Belarus. Diese zeige, dass solches Glück alles andere als selbstverständlich sei. Zugleich aber verwies Bartsch darauf, dass es noch immer große soziale Unterschiede gebe - und forderte erneut eine Aufarbeitung der Treuhand-Geschichte. "Die Treuhand", so Bartsch, "war der Kardinalfehler der Einheit."

Mindestens Versäumnisse und Irrtümer der Treuhand beklagte auch Katrin Göring-Eckardt, die Co-Fraktionschefin der Grünen. Sie tat es aber nicht wehklagend, sondern indem sie Unternehmen nannte, die einst abgeschrieben wurden und heute sehr erfolgreich seien: der Kommunikations- und Sicherheitstechnikhersteller Funkwerk ebenso wie der Gelenkwellen-Spezialist Gewes, zum Beispiel. Erfolgsgeschichten statt Jammer-Ossi - diese Botschaft hatte sich die ostdeutsche Grünen-Politikerin vorgenommen.

Und zur Verstärkung dieser Erzählung erinnerte sie dann an eine ganz besondere Episode. So habe Peter Maffay im Jahre 1980 bei der ostdeutschen Band Karat die Rechte für das später äußerst erfolgreiche Lied "Über sieben Brücken musst du gehen" gekauft. Zwei Millionen Mal sei die Platte im Westen verkauft worden. Wer wisse heute schon, dass da ostdeutsches Kulturgut Erfolge gefeiert habe, fragte Göring-Eckardt. Ihren kecken Hinweis ergänzte sie noch durch die Bemerkung, dass der ARD-"Tatort" ohne den ostdeutschen Schauspieler Jan Josef Liefers zwar denkbar sei, "aber sinnlos".

Die AfD: Weniger angriffslustig als sonst

Weniger prosaisch, aber für seine Partei ungewöhnlich trat auch AfD-Chef Timo Chrupalla auf. Er sparte sich bei diesem Auftritt aggressive Attacken gegen alle anderen Parteien im Parlament und erinnerte daran, dass die Menschen in der DDR zwar unterdrückt gewesen seien, aber viel Hilfsbereitschaft gezeigt hätten. "Vor allem im Privaten überlebte eine Mitmenschlichkeit", die heute viele Menschen vermissen würden. "Wir sollten uns fragen, warum", so Chrupalla.

Bei aller vermeintlichen oder tatsächlichen Friedfertigkeit verzichtete der AfD-Co-Vorsitzende allerdings nicht darauf, ein paar doppeldeutige Botschaften zu setzen. So betonte er unter anderem, dass die AfD die erste Partei sei, die gesamtdeutsch und "frei von ideologischem Ballast" über die Lage im Land reden könne - ohne auszusprechen, was er mit Ballast meinte. So konnte sich jeder reindenken, was es sein könnte - und das galt natürlich auch für Chrupallas eigene Leute. Kein Wunder, dass die AfD an der Stelle am lautesten Beifall klatschte.

Die absichtlich unklare Formulierung dürfte denn auch der Grund dafür gewesen sein, dass sich Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus in seinem Auftritt gezwungen sah, nicht nur wie geplant über das große Glück der Einheit zu reden, sondern vor Streit und Spaltung zu warnen. Die innere Einheit müsse auch und gerade im Bundestag immer wieder hergestellt werden. "Wir sind die Klammer, die dieses Land verbindet." Umso wichtiger sei es, immer respektvoll miteinander umzugehen.

Ein Appell, der allen galt; manchen aber galt er ganz besonders.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

MeinungEinheitsjubiläum
:Mauern im Kopf

Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung wird die Andersartigkeit des Ostens immer noch betont. Doch es sollte auch Zeit sein, über die Versäumnisse zu sprechen. Und den progressiven Kräften deutschlandweit Gehör zu verschaffen.

Kommentar von Ulrike Nimz

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: