Europa:Abriegeln, ignorieren, zwangsimpfen

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Können Impfungen den Zusammenhang zwischen Infektion und ernsthafter Gefahr brechen? Demonstranten fordern in London die Wiedereröffnung der Nachtclubs. (Foto: Henry Nicholls/REUTERS)

Wie unterschiedlich Länder in Europa auf den Vormarsch der Delta-Variante reagieren.

Von Silke Bigalke, Karin Janker und Michael Neudecker

Die Bundesregierung stuft mittlerweile drei Länder in Europa als Virusvariantengebiete ein: Großbritannien, Portugal und Russland. Für Reiserückkehrer gelten strenge Quarantäneregeln. Das ist die Lage in den einzelnen Ländern:

Großbritannien

Das Vereinigte Königreich hat seit dieser Woche einen neuen Gesundheitsminister - mitten in der Corona-Krise. Sajid Javid folgte Matt Hancock nach. Der Konservative musste wegen einer Affäre mit einer Mitarbeiterin zurücktreten. Doch Javid macht da weiter, wo sein Vorgänger aufgehört hatte. Gleich am ersten Tag kündigte er an, sehr wahrscheinlich am 19. Juli alle Einschränkungen aufgrund der Pandemie wie geplant aufzuheben - wenngleich nicht ganz klar ist, ob etwa auch das Tragen einer Maske dazu zählen wird.

Javid war früher bereits Finanzminister, er galt schon vor seiner Berufung an die Spitze des Gesundheitsressorts als Lockdown-Skeptiker, wegen der verheerenden wirtschaftlichen Folgen. Die Hoffnungen der Briten auf ein Ende der Beschränkungen stützen sich vor allem auf die Impfzahlen. Stand Dienstag waren 84 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einmal, 62 Prozent sogar schon zweimal geimpft.

Gleichzeitig wurden aber 22 800 neue Fälle registriert und damit erneut mehr als am Vortag, die Inzidenz liegt mittlerweile bei 172, so hoch wie nirgends sonst in Europa. Weil aber vergleichsweise wenige Menschen als ernsthaft mit Covid-19 erkrankt gemeldet werden, geht es in der öffentlichen Diskussion im Königreich nun vor allem um die Frage, ob die Impfungen tatsächlich den Zusammenhang zwischen Infektion und ernsthafter Gefährdung brechen können.

Auch, um das untersuchen zu können, wurden zu mehreren Großveranstaltungen Zehntausende Zuschauer zugelassen, nicht nur zum Spiel der Deutschen in Wembley, sondern auch zum Tennisturnier in Wimbledon und zum Formel-1-Rennen in Silverstone im Juli. Wie hilfreich das am Ende sein wird, ist offen, zumal die Verbreitung des Virus auch von Experten in England kritisch gesehen wird. Manche Wissenschaftler warnen bereits, die Zuschauer müssten besser darüber informiert werden, dass sie Teil eines großen Forschungsprojektes sind.

Infektionsherd Lissabon: Portugals Hauptstadt wurde an den vergangenen beiden Wochenenden abgeriegelt, um die Ausbreitung der Virusvariante einzudämmen. (Foto: Edson de Souza/imago images/TheNews2)

Portugal

Wann immer man ein besonders drastisches Beispiel braucht, zeigen deutsche Politiker in diesen Monaten auf Portugal. Zunächst diente das Land dem SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach als Musterbeispiel dafür, wie man mit einem harten Lockdown die Infektionszahlen wieder in den Griff bekomme. Vorige Woche dann die gegenteilige Botschaft von Kanzlerin Angela Merkel: Portugal habe britische Touristen zu früh empfangen und sich so die Delta-Variante ins Land geholt.

Tatsächlich hatte Portugal in diesem Frühjahr wochenlang mit die niedrigsten Infektionszahlen in Europa. Seit Ende Mai änderte sich dann das Bild. Seitdem ist zu beobachten, wie im Großraum Lissabon die Inzidenz langsam steigt. Seit zwei Wochen ballen sich in der Metropolregion nun etwa zwei Drittel aller Positivtests - obwohl dort nur 27 Prozent der Einwohner des Landes leben. Portugals Regierung hat reagiert und die Hauptstadt an den vergangenen beiden Wochenenden abgeriegelt. Das sollte verhindern, dass das Infektionsgeschehen auf das ganze Land übergreift. Doch wie die Zeitung Público berichtet, war der Effekt bescheiden. Offenbar haben viele Menschen einfach kurz vor dem Wochenende noch rasch die Stadt verlassen.

Der Anstieg der landesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von 22 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner Mitte Mai auf inzwischen 94 ist nach Ansicht von Medizinern vor allem auf die Delta-Variante zurückzuführen. Dem Nationalen Gesundheitsinstitut zufolge beträgt der Anteil der Delta-Variante inzwischen fast 56 Prozent. Anfang Mai lag er noch bei vier Prozent.

Der Intensivmediziner José Artur Paiva übt harsche Kritik an der Regierung. Portugal habe zum zweiten Mal zu langsam auf das Auftauchen einer neuen Coronavirus-Variante reagiert. Im Dezember hatte sich die Alpha-Variante ausgebreitet und das portugiesische Gesundheitssystem zusammenbrechen lassen. Auch damals wurde die Virusvariante mutmaßlich aus Großbritannien eingetragen. Von dort kommen traditionell die meisten Touristen ins Land - gefolgt von Deutschland.

Explodierende Infektionszahlen in Moskau: Ein Desinfektionsteam geht durch den Rigaer Bahnhof in der russischen Hauptstadt. (Foto: Russian Emergencies Ministry/REUTERS)

Russland

Es ist etwa ein Jahr her, dass Sergej Sobjanin den Moskauern zu ihrem "gemeinsamen Sieg" gratulierte, dem Sieg über das Virus. Damals, im Juni 2020, öffnete der Bürgermeister die Hauptstadt nach einem langen Lockdown, seither gab es in Russland keine nennenswerten Einschränkungen mehr, auch wenn die Neuinfektionszahlen zwischenzeitlich stiegen. Jetzt aber sind sie explodiert, wohl wegen der Delta-Variante. In Moskau stecken sich laut Sobjanin neun von zehn Infizierten mit dieser Mutante an. Allein in den vergangenen sieben Tagen haben sich offiziell fast 52 000 der etwa zwölf Millionen Moskauer mit Sars-CoV-2 infiziert.

Das führt nun zur Kehrtwende in der russischen Corona-Politik. Unbeliebte Zwangsmaßnahmen überlässt der Kreml dabei wie zu Pandemiebeginn den Regionen, Sobjanin reicht sie seinerseits an die Arbeitgeber weiter. In Gastronomie, Einzelhandel, Nahverkehr, im Bildungsbereich - überall, wo es Kundenkontakt gibt, müssen sie 60 Prozent ihrer Belegschaft nun schnell durchimpfen lassen. Viele Chefs drohen Impfunwilligen damit, sie unbezahlt freizustellen. Mehr als ein Dutzend russischer Regionen machen es Moskau inzwischen nach.

Das am meisten verbreitete Vakzin in Russland ist Sputnik V. Über den offiziellen Twitter-Account haben dessen Hersteller verkünden lassen, ihr Impfstoff wirke besser gegen die Delta-Variante als alle anderen. Den Beweis bleibt das Moskauer Gamaleja-Institut allerdings schuldig.

Moskaus Bürgermeister Sobjanin hat indessen gewarnt, dass sich auch Geimpfte schneller mit der Delta-Variante anstecken als mit anderen Varianten. Landesweit haben erst etwa 13 Prozent der Einwohner zwei Impfdosen erhalten. Zwei Drittel der Russen möchten sich gar nicht impfen lassen, so eine Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums vom Frühjahr. Etwa genauso viele halten demnach das Virus für eine künstlich entwickelte Waffe. 56 Prozent sagten, sie hätten keine Angst vor Covid-19.

Wer sich einmal mit der Delta-Variante angesteckt hat, dem können die russischen Ärzte offenbar weniger gut helfen als anderen Covid-19-Patienten, mehrere Mediziner haben sich dazu anonym geäußert. "Alarmierend ist das Gefühl, dass sich das Virus verändert", sagte Denis Prozenko, Chefarzt einer Moskauer Corona-Klinik, Mitte Juni dem Radiosender Echo Moskwy. Es gebe Patienten, "die auf die entwickelten Therapiemethoden nicht reagieren". Gegen die Delta-Variante braucht man laut Moskaus Vizebürgermeisterin Anastasija Rakowa deutlich mehr Antikörper als gegen andere Varianten des Virus, bei nur etwa einem Viertel der Moskauer reichten die Antikörper bereits aus. Das sei "definitiv" nicht genug, um die Epidemie zu stoppen, sagte sie dem Staatssender Rossija 24.

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