Das mediale Einigungsgetümmel verebbt. Die Gedenktage an das Bersten der totalitären Herrschaft in der Deutschen Demokratischen Republik und der Mauer, mit der sie sich umgürtet hatte, haben einen Wust an Erinnerungen hervorgebracht. Wer sich jedoch im Nachhinein ein Sachbild von der stimmungsgeladenen Zeit machen will, hat es schwer, aus dem Strom der Empfindungen handfeste Information zu fischen.
Das Buch "Zündfunke aus Prag" des tschechischen Historikers Karel Vodička - er ist Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden - fällt da beispielhaft aus dem Rahmen. Dieses Buch ist eine wissenschaftsnahe Dokumentation darüber, wie die Botschaftsbesetzungen des Herbstes 1989 im böhmischen Prag das DDR-Regime gänzlich hilflos gemacht haben und dazu beitrugen, ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen.
Als Mitautor wird Hans-Dietrich Gen-scher genannt. Der damalige deutsche Außenminister steuert einen aufschlussreichen, in seinen Gedanken und Formulierungen freilich hinreichend bekannten Introitus von knapp zehn Seiten bei. Er war einer der Hauptakteure jener Tage. Weit wichtiger als Genschers Text sind hingegen die abschließenden Beobachtungen des tschechischen Intellektuellen und Politikers Petr Pithart, der in emotionsloser Offenheit die unentschiedene innere Verfassung der tschechoslowakischen Gesellschaft von damals skizziert, in deren Mitte das Prager Drama seinen Lauf nahm.
Konkrete Seuchengefahr
Die Öffentlichkeit des Landes war davon keineswegs unbeeindruckt: Die Beteiligung an der sogenannten samtenen Revolution in der CSSR, die rasch folgte, fiel weniger distanziert aus, als die eher lauernde denn empathische Haltung weiter Bevölkerungskreise hätte erwarten lassen.
Hier wird also vergleichsweise nüchtern dargelegt, wie die Besetzung der deutschen Botschaft in Prag durch Abertausende DDR-Bürger die letztverbliebenen eisenharten kommunistischen Verbündeten, eben SED und KPC, entzweite. Die Besetzung verleitete zudem die SED-Führung zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen - wahre Brandverstärker für die innere prärevolutionäre Stimmung in der DDR. Angesichts der Besetzungen mit ihren katastrophalen Folgen (bis zu konkreter Seuchengefahr in der tschechoslowakischen Hauptstadt) entglitt Ostberlin das Heft über sein eigenes Handeln.
Die SED wurde gezwungen, zwischen-zeitlich die Grenzen auch zur CSSR zu schließen, dem bis dato letztverbliebenen Reiseland. Das Gefühl der Bürger, im SED-Staat wie im Gefängnis zu sitzen, erfuhr seine schaurige Vollendung. Später dann sah sich das SED-Regime gezwungen, die Mauer zumindest faktisch schon Tage vor dem 9. November einzureißen: Als es nämlich gestatten musste, dass DDR-Bürger über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik ausreisen konnten, schließlich sogar ohne noch überhaupt Prag oder die dortige westdeutsche Botschaft anzusteuern.
In unserem Geschichtsbewusstsein existiert diese reale frühere Grenzöffnung gar nicht: dass nämlich bereits lange vor dem Sturm auf die Mauer die DDR in Folge des Botschaftsdramas genötigt war, Abertausende ungehindert über die CSSR in den Westen gehen zu lassen.
Zu diesen Regelungen wurde Ostberlin, dem da sogar Gorbatschows Moskau die kalte Schulter zeigte, von dem Bruderstaat CSSR gezwungen, dessen Führung befürchtete, der Aufruhr um die überfüllte Prager Botschaft könnte auch die eigene Bevölkerung infizieren. Tatsächlich waren Prager, Tschechen und Slowaken insgesamt solidarisch und hilfreich. Anders aber als zuvor in Ungarn war das Prager Regime der Überzeugung, nichts ändern, nichts wirklich reformieren zu müssen und als letztverbliebenes Refugium des "wahren" Sozialismus zu überdauern.