DDR-Wende 1989:Zündfunke aus Prag

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Zeltlager auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag für DDR-Bürger, die auf eine Ausreise in die Bundesrepublik warteten. Im Hintergrund ist die Prager Burg zu erkennen. Die Aufnahme entstand Ende September 1989. (Foto: Reinhard Kemmether/dpa)

Welchen Anteil hatte 1989 der bundesdeutsche Botschafter an der Wende in der DDR? Offenbar eine wirkmächtige, meint ein neues Buch, an dem auch Ex-Außenminister Genscher mitschrieb.

Von Michael Frank

Das mediale Einigungsgetümmel verebbt. Die Gedenktage an das Bersten der totalitären Herrschaft in der Deutschen Demokratischen Republik und der Mauer, mit der sie sich umgürtet hatte, haben einen Wust an Erinnerungen hervorgebracht. Wer sich jedoch im Nachhinein ein Sachbild von der stimmungsgeladenen Zeit machen will, hat es schwer, aus dem Strom der Empfindungen handfeste Information zu fischen.

Das Buch "Zündfunke aus Prag" des tschechischen Historikers Karel Vodička - er ist Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden - fällt da beispielhaft aus dem Rahmen. Dieses Buch ist eine wissenschaftsnahe Dokumentation darüber, wie die Botschaftsbesetzungen des Herbstes 1989 im böhmischen Prag das DDR-Regime gänzlich hilflos gemacht haben und dazu beitrugen, ihm den entscheidenden Schlag zu versetzen.

Als Mitautor wird Hans-Dietrich Gen-scher genannt. Der damalige deutsche Außenminister steuert einen aufschlussreichen, in seinen Gedanken und Formulierungen freilich hinreichend bekannten Introitus von knapp zehn Seiten bei. Er war einer der Hauptakteure jener Tage. Weit wichtiger als Genschers Text sind hingegen die abschließenden Beobachtungen des tschechischen Intellektuellen und Politikers Petr Pithart, der in emotionsloser Offenheit die unentschiedene innere Verfassung der tschechoslowakischen Gesellschaft von damals skizziert, in deren Mitte das Prager Drama seinen Lauf nahm.

Konkrete Seuchengefahr

Die Öffentlichkeit des Landes war davon keineswegs unbeeindruckt: Die Beteiligung an der sogenannten samtenen Revolution in der CSSR, die rasch folgte, fiel weniger distanziert aus, als die eher lauernde denn empathische Haltung weiter Bevölkerungskreise hätte erwarten lassen.

Hier wird also vergleichsweise nüchtern dargelegt, wie die Besetzung der deutschen Botschaft in Prag durch Abertausende DDR-Bürger die letztverbliebenen eisenharten kommunistischen Verbündeten, eben SED und KPC, entzweite. Die Besetzung verleitete zudem die SED-Führung zu verhängnisvollen Fehlentscheidungen - wahre Brandverstärker für die innere prärevolutionäre Stimmung in der DDR. Angesichts der Besetzungen mit ihren katastrophalen Folgen (bis zu konkreter Seuchengefahr in der tschechoslowakischen Hauptstadt) entglitt Ostberlin das Heft über sein eigenes Handeln.

Die SED wurde gezwungen, zwischen-zeitlich die Grenzen auch zur CSSR zu schließen, dem bis dato letztverbliebenen Reiseland. Das Gefühl der Bürger, im SED-Staat wie im Gefängnis zu sitzen, erfuhr seine schaurige Vollendung. Später dann sah sich das SED-Regime gezwungen, die Mauer zumindest faktisch schon Tage vor dem 9. November einzureißen: Als es nämlich gestatten musste, dass DDR-Bürger über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik ausreisen konnten, schließlich sogar ohne noch überhaupt Prag oder die dortige westdeutsche Botschaft anzusteuern.

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In unserem Geschichtsbewusstsein existiert diese reale frühere Grenzöffnung gar nicht: dass nämlich bereits lange vor dem Sturm auf die Mauer die DDR in Folge des Botschaftsdramas genötigt war, Abertausende ungehindert über die CSSR in den Westen gehen zu lassen.

Zu diesen Regelungen wurde Ostberlin, dem da sogar Gorbatschows Moskau die kalte Schulter zeigte, von dem Bruderstaat CSSR gezwungen, dessen Führung befürchtete, der Aufruhr um die überfüllte Prager Botschaft könnte auch die eigene Bevölkerung infizieren. Tatsächlich waren Prager, Tschechen und Slowaken insgesamt solidarisch und hilfreich. Anders aber als zuvor in Ungarn war das Prager Regime der Überzeugung, nichts ändern, nichts wirklich reformieren zu müssen und als letztverbliebenes Refugium des "wahren" Sozialismus zu überdauern.

Die Bevölkerung war mehrheitlich unentschieden, mochte nach den Erfahrungen mit dem gewaltsamen Ende der Reformbewegung des Jahres 1968 nicht aktiv werden. Nun bekam sie - Petr Pithart beschreibt das plastisch - von den als autoritätshörig verschrienen DDR-Bürgern vorgeführt, was es heißt, für die eigene Freiheit zu rennen. Prags Oppositionelle übrigens debattierten oftmals mit Flüchtlingen, argumentierten aber in die Gegenrichtung: Sie beschworen die DDR-Bürger, zu Hause für Reformen und das Ende des Gewaltregimes zu sorgen, statt davonzulaufen.

Wiewohl eine Dokumentation von diplomatischen Aktivitäten, Demarchen, Interaktionen, Reaktionen, Abhörprotokollen, liest sich das weithin wie ein Thriller. Man hat die Abfolge "popularisiert", wie der Verlag das nennt.

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Martin Mühlfenzl

Die Verfüllung mit Dramatisierungsfloskeln, die sich bald ermüdend wiederholen, hätte man sich angesichts der faszinierenden Dynamik des Geschehens sparen können. So spannend ist das alles, obwohl es hier fast nur um Diplomatie geht und kaum um die Befindlichkeit der Menschen oder die Einbettung in die Lebensverhältnisse der Stadt Prag. Einen wichtigen Teil des Prager Sittenbilds liefert immerhin Petr Pitharts verdienstvoller Text.

Ohne es zu ahnen, haben die Botschaftsflüchtlinge die DDR mit zum Einsturz gebracht, da sie ihrem Staat die letzte Glaubwürdigkeit raubten. Das Bild dieser Dynamik schöpfen Vodička und sein Team aus Akten, Medienberichten, Geheimdienstnotizen. Genscher glänzte mit seinem berühmten Auftritt auf dem Prager Botschaftsbalkon. In dem Buch wird auch der damalige Bonner Botschafter Hermann Huber angemessen gewürdigt: er, seine Familie und die Mitarbeiter, die diesen "Urstrom der Geschichte" (Genscher) unter aberwitzigen Erschwernissen zu kanalisieren hatten, ja ihn gesteuert haben.

Ein Mythos nur bleibt unangetastet: Demzufolge habe Bonn immer die tschechoslowakischen Behörden beschworen, den Zugang zur Botschaft unbehindert zu lassen. Tatsächlich hat Bonn die Botschaft sogar schließen lassen, aus einleuchtenden formalen Gründen.

Es waren aber väterliche Umsicht, menschliche Anteilnahme und kaltblütiges Kalkül, die den Botschafter Huber auch gegen Bonner Intentionen die Prager Botschafter immer wieder weit ihre Pforten öffnen ließen: wohl wissend, dass so die Situation derart eskalieren werde, dass die Diplomatie zwangsläufig zu unkonventionellen Lösungen greifen musste. Botschafter Huber also hat - pathetisch gesagt - großen Anteil an der Befreiung der DDR. Das aber erfahren wir aus diesem gleichwohl sehr lesenswerten Buch nicht.

Karel Vodička, Hans-Dietrich Genscher: Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte. dtv Sachbuch, 2014. 352 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 05.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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