Kaum zu glauben. Bisweilen zeigt auch der Rechtsstaat ein hässliches Gesicht: Immer dann, wenn seinen Akteuren die Wertmaßstäbe abhandengekommen sind, wenn sie nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden - etwa einen Alt-Nazi zum Generalbundesanwalt befördern. Solche postfaschistischen Karrieren waren in der deutschen Nachkriegsgeschichte business as usual. Insofern kam Wolfgang Immerwahr Fränkel ganz regulär zu Amt und Würden - ein Jurist, der vor 1945 "den Dolch unter der Robe" trug.
In einer faktenreichen zeithistorischen Studie, die am Mittwoch in den Handel kommt, werden die spannenden Häutungen der Bundesanwaltschaft beschrieben. Als Autoren zeichnen der Zeithistoriker Friedrich Kießling und der Strafrechtler Christoph Safferling. Ihr aussagekräftiger Titel: "Staatsschutz im Kalten Krieg - Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF". Was sie da aufblättern, ist ein Staats-Schauspiel in drei Akten: Vergangenheit verbergen, Vergangenheit schönreden, Vergangenheit wieder salonfähig machen.
Die Gesellschaft nahm, wenn sie es überhaupt bemerkte, mehr oder weniger achselzuckend zur Kenntnis, dass Hitlers Gefolge ungeniert den Schulterschluss übte. Die Buchautoren notieren: Noch 1966, zu Beginn der Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, "waren zehn von elf Bundesanwälten ehemalige NSDAP-Mitglieder". Und die hielten dicht.
Der SED-Staat enttarnte Wolfgang Fränkel
Im Vertrauen darauf hatte Fränkel 1962 seine Verstrickungen zunächst empört abgestritten, dann aber, wie die Autoren penibel festhalten, kleinlaut eingeräumt. Beweisstück war eine Dokumentation des DDR-Regimes, 130 Seiten stark, "von ihrem Umfang und ihrer Unanfechtbarkeit einzigartig". Um Fränkel vorzuführen, habe der SED-Staat "nicht einmal einen scharfen Ton benötigt", "eine lückenlose Aufzählung der Fakten genügt". Er hatte in 50 Fällen die Verhängung der Todesstrafe beantragt. Der nunmehr aufgeklärte Bundesjustizminister versetzte ihn in den Ruhestand, ein Disziplinarverfahren verlief im Sande. Fränkel lebte bis zu seinem Tod 2010 in Bad Liebenzell. Noch 48 Jahre, mit einer üppigen Pension, es dürften - währungsbereinigt und geschätzt - mehr als fünf Millionen Euro gewesen sein.
In den Fünfzigerjahren erfüllte die Bundesanwaltschaft einen Kampfauftrag, keinen juristischen, sondern einen politischen: die Verfolgung aller Kommunisten im Land. Dafür mussten sie sich nicht "einarbeiten", sie konnten dort anknüpfen, wo sie selbst und wo Himmlers Spezialisten fürs "Ausmerzen" 1945 aufgehört hatten. Ein fast nahtloser Übergang.
Im Kalten Krieg blieb der Rechtsstaat auf der Strecke. Am Niedergang hatten alle ihren Anteil: konservative Abgeordnete, eifrige Bundesanwälte und willfährige Bundesrichter. Im Bundestag fand sich eine Mehrheit, die den Staatsschutz der Nazis revitalisierte. Seit 1951 galt das alte Gesinnungsstrafrecht. Es kam nicht darauf an, was einer tat. Strafbar machte sich schon, wer das Falsche dachte, sagte oder schrieb, etwa ein verdächtiges Flugblatt.
Es war zwar denkbar, dass der Ostblock klammheimlich Agenten einschleuste. Doch um das zu verhindern, mussten die Karlsruher Ankläger den Antikommunismus, wie geschehen, nicht als Exzess praktizieren. Ersichtlich fiel den Strafverfolgern nicht mehr auf, dass sie und ihresgleichen vor und nach 1945 dieselben "Staatsfeinde" im Visier hatten.
Strafbar machte sich schon, wer das Falsche dachte
Im Strafprozessrecht griffen die Bundesanwälte mit leichter Hand zu schwerem Geschütz. Um die richterliche Kontrolle zu umgehen, nahmen sie vorschnell "Gefahr im Verzug" an, ein Ticket für den raschen Zugriff. Wie man Kommunisten an die Kandare nahm, wussten noch viele "altgediente" Verfolger: Keine Besuche von Zelle zu Zelle, Umgang mit Verteidigern nur in Anwesenheit eines Richters, strenge Überwachung samt Beschlagnahme von Post und Lektüre. Jeder Ganove durfte an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen, dem Kommunisten wurde diese "Gunst" versagt.
In den Anklageschriften waren die politischen Straftaten wie ein Abzählreim aufgereiht: Vorbereitung des Hochverrats, Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, Verunglimpfung des Staates und öffentliche Verleumdung des Bundeskanzlers.
Die Bundesanwälte selbst trugen zur Verwirrung bei. Schützten sie nun den Staat? Oder sahen sie ihre Aufgabe darin, die Regierung vor Ungemach zu bewahren? Und wenn sie den Staat wirklich schützten - auf welche Weise? Voller Jagdeifer? Oder sine ira et studio? Was die Autoren herausgefunden haben, ist mehrdeutig. Fest steht, dass die Ankläger alle Kommunisten gnadenlos verfolgten. Aber der Vorwurf "auf dem rechten Auge blind" traf nur bedingt zu. Gegen rechte Verschwörer wie den ehemaligen Reichsjugendführer Artur Axmann gingen sie energisch vor.
Ein Großangriff auf das Hamburger Magazin
Andererseits: Was sie bei den Kommunisten vorexerziert hatten, setzten sie später "mit Wollust" bei den "Pressebengels" (FAZ) vom Spiegel fort mit einem Großangriff gegen das Nachrichtenmagazin im Jahr 1962 (Vorwurf: publizistischer Landesverrat). Nach den Erkenntnissen der Buchautoren waren die Karlsruher Bundesanwälte "Hauptakteure" des Schlamassels - mit einem "gelinde gesagt, robusten Vorgehen". Die Redaktion wurde überfallartig besetzt und abgeriegelt, Herausgeber Rudolf Augstein verhaftet. Ohne solidarische Hilfe der übrigen Presse hätte das Blatt nicht erscheinen können. Den Bundesanwälten fehlte offenbar das Sensorium für die empörte Reaktion der Öffentlichkeit. Weil sie, so die Chronisten, der beginnenden Liberalisierung "ablehnend, ja fast feindlich" gegenüberstanden. Darum schleppte sich das Spiegel-Verfahren bis Oktober 1966 dahin. Bei der Schlussbesprechung in Bonn kamen drei Minister und drei Bundesanwälte zusammen. Inzwischen war klar, dass man dem Spiegel keinen Geheimnisverrat vorwerfen konnte. Die Redakteure hatten aus bekannten Details ein verblüffendes Gesamtbild geformt, das die Misere der Bundeswehr offenbarte. Die Ministerriege plädierte für Einstellung des Verfahrens. Generalbundesanwalt Ludwig Martin, der sich verbissen wehrte, gab klein bei, nachdem auch Bundeskanzler Ludwig Erhard einen Schlussstrich wünschte; der kam am 25. Oktober 1966.
Das Buch streift den beginnenden RAF-Terror und endet 1974 mit der Ära von Ludwig Martin. Die Ermordung seines Nachfolgers Siegfried Buback bleibt einer weiteren Untersuchung vorbehalten, ebenso der blutige "Deutsche Herbst" und die Verwandlung der Bundesanwaltschaft, wo der missionarische Eifer allmählich von einer professionellen Gelassenheit abgelöst wurde. Schon das vorliegende Werk ist eine sinnvolle Orientierungshilfe für jedermann. Der Leser lernt, dass er ständig auf der Hut sein muss und nicht auf jeden Etikettenschwindel reinfallen sollte: Wo Rechtsstaat draufsteht, muss nicht Rechtsstaat drin sein!
Das Buch lenkt auch den Blick auf die Tatsache, dass in Karlsruhe eine neue Generation das Sagen hat. Ohne deren tätige Hilfe wäre das Buch nicht möglich gewesen. Mehr noch: Der amtierende Generalbundesanwalt Peter Frank hat die Untersuchung sogar in Auftrag gegeben. Er kam 1968, 23 Jahre nach Ende des Hitler-Spuks zur Welt. Die Indoktrinierung und Instrumentalisierung der Justiz durch die Nazis kennt er nur vom Hörensagen und durch Bücher. Er profitiert von der Gnade seiner späten Geburt - und die Behörde mit ihm.
Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.