Großbritannien:"Das Problem in dieser Krise war, dass immer wieder Löwen von Eseln geführt wurden"

Lesezeit: 4 Min.

Der frühere Chefberater Cummings greift Premier Johnson für seinen Umgang mit der Pandemie frontal an und zeichnet ein verheerendes Bild der britischen Politik.

Von Philipp Saul

Auf Twitter hat Dominic Cummings in den Tagen vor der Anhörung schon ordentlich ausgeteilt und einen Frontalangriff auf seinen früheren Vorgesetzten gefahren, den Premierminister Boris Johnson. In einer Liste von 64 aufeinanderfolgenden Twitternachrichten ließ sich der ehemalige Chefberater über die Arbeit der britischen Regierung in der Corona-Pandemie aus, warf ihr Lügen und Untätigkeit vor.

In einer Anhörung vor zwei Ausschüssen im britischen Parlament legte Cummings nun nach, gab sich aber auch selbst demütig. "Als die Öffentlichkeit uns am meisten gebraucht hätte, hat die Regierung versagt." Großbritannien habe die Signale zu Beginn der Pandemie nicht gesehen und im Januar und weiten Teilen des Februar 2020 nicht ausreichend reagiert.

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Erst Ende Februar sei festgestellt worden, dass die angeblich vorbereiteten Krisenpläne der Regierung "hohl" gewesen seien. Die Regierung habe zuvor nicht im "Kriegsmodus" gearbeitet, sondern viele Mitglieder seien Mitte Februar Skifahren gewesen. Auch er selbst hätte sich früher kümmern und "den Panikknopf" drücken müssen, sagte Cummings und entschuldigte sich öffentlich.

Johnson wollte sich angeblich öffentlich infizieren lassen

Cummings zeichnete ein verheerendes Bild der britischen Regierungsarbeit und verglich diese in Teilen mit Szenen aus dem Film "Independence Day". Allein Gesundheitsminister Matt Hancock "hätte mindestens für 15, 20 Sachen gefeuert werden müssen", darunter mehrere Lügen in Sitzungsräumen und der Öffentlichkeit, zum Beispiel bei der Beschaffung von Schutzausrüstung. Das habe er auch Johnson gesagt.

Hancock habe im März 2020 auch behauptet, Covid-Patienten würden getestet, bevor sie von Krankenhäusern zurück in Pflegeeinrichtungen gebracht wurden. Erst nach Wochen hätten Johnson und er herausgefunden, dass das nicht stimmte. "Wir haben sie nicht geschützt, ganz im Gegenteil: Wir haben Leute mit Corona zurück in die Pflegeheime geschickt", sagte Cummings. Erkrankte hätten ihrerseits andere Menschen infiziert, "und dann hat es sich wie ein Lauffeuer verbreitet".

Cummings war lange die rechte Hand Johnsons und eine Art Mastermind des konservativen Politikers. Er galt als der einflussreichste und meistgefürchtete Mann im Regierungsbezirk. Beobachter sagen, dass kaum eine Entscheidung ohne Cummings getroffen wurde.

Er griff auch den Premierminister direkt scharf an, von dessen Seite er sich im November im Streit verabschiedet hatte: Johnson habe das Virus Anfang 2020 als "Gruselgeschichte" und "die neue Schweinegrippe" bezeichnet. Johnson habe sich sogar live im Fernsehen mit dem Virus infizieren lassen wollen, um zu zeigen, dass es nicht gefährlich sei. Mehrere Verantwortungsträger in London hätten deshalb gedacht, es wäre nicht hilfreich, wenn der Premierminister an den Notfallsitzungen eines Corona-Krisenstabs der Regierung teilnehmen würde.

Über seine eigene hohe Rolle als Chefberater in der Regierung sagte Cummings: "Ich bin nicht schlau, ich habe keine großartigen Dinge auf dieser Welt gebaut. Es ist völlig irre, dass jemand wie ich dort gewesen sein soll, genauso wie es irre ist, dass Boris Johnson dort war." Johnson sei nicht für die Rolle des Premierministers geeignet, sagte Cummings. Unter den Berufsbeamten gebe es viele brillante Köpfe, aber "das Problem in dieser Krise war, dass immer wieder Löwen von Eseln geführt wurden", sagte er in Richtung von Johnson und Hancock.

"Wir sind absolut am Arsch"

Großbritannien ist mit inzwischen mehr als 150 000 Corona-Toten eines der am schwersten getroffenen Länder in Europa. Die Regierung sei 2020 zu spät in den ersten Lockdown gegangen und habe zunächst voll auf eine schnelle Durchseuchung und Herdenimmunität in der britischen Gesellschaft gesetzt. Angesichts mehrerer Dementis von Regierungsmitgliedern sagte Cummings, er sei verblüfft, dass nun versucht werde, das zu leugnen. In den Tagen vor der Anhörung hatte er, weniger diplomatisch, von "Bullshit" gesprochen.

Der damalige oberste Spitzenbeamte Mark Sedwill habe Mitte März gesagt, Johnson solle die Bevölkerung zu Coronavirus-Partys aufrufen, ähnlich wie Eltern Windpockenpartys für ihre Kinder veranstalten, behauptete Cummings. Das sei offizieller Rat des Gesundheitsministeriums gewesen.

Die Belastungen eines harten Lockdowns hätten lange "surreal" gewirkt. Aber als im März 2020 eine Modellrechnung vorgestellt wurde, die zeigte, dass das nationale Gesundheitswesen bald überfordert sein würde, hätten Cummings und andere realisiert, dass es einen "Plan B" für die Pandemie brauche. Ein hochrangiger Berater habe im Sitzungsraum gesagt: "Wir sind absolut am Arsch", erinnerte sich Cummings. "Ich sagte: 'Ich denke, du hast recht. Ich denke, es ist eine Katastrophe.'"

Cummings Äußerungen der vergangenen Tage wirken wie ein Rachefeldzug gegen seinen früheren Mitstreiter Johnson nach der Trennung im Streit. In britischen Medien hieß es vor der Anhörung, Cummings habe nichts mehr zu verlieren. Vermutet wird auch, dass weitere Anschuldigungen gegen Johnson auf ihn zurückgehen. Etwa, dass der Premier Spendengelder für die Renovierung seiner Dienstwohnung genutzt habe oder dass er sich die Kosten für die Nanny seines Sohnes Wilfred von Tory-Unterstützern habe bezahlen lassen.

Johnson verteidigt sich

Der Zeitplan für diesen Mittwoch der harschen Anschuldigungen in der britischen Politik hielt noch eine Besonderheit parat: Noch während Cummings im Parlamentsausschuss gegen Johnson und die Regierung schoss, trat deren Chef im Plenum bei den wöchentlichen Fragen der Abgeordneten an den Premierminister auf. Dieser hatte in den vergangenen Wochen beim Impffortschritt und Lockerungen im öffentlichen Leben so einige positive Nachrichten zu verkünden. Wegen Cummings' Aussagen dürfte er nun aber stark unter öffentlichen Druck geraten.

Johnson sagte auf die Worte seines Ex-Beraters: "Wir haben in jeder Phase versucht, den Verlust von Menschenleben zu minimieren." Der Umgang mit der Pandemie sei "entsetzlich schwierig". Johnson betonte: "Keine der Entscheidungen war einfach. Es ist für jede Region traumatisch, in einen Lockdown zu gehen."

Er akzeptiere den Vorwurf von Cummings nicht, dass Untätigkeit der Regierung zu unnötigen Todesfällen geführt habe, sagte Johnson in Reaktion auf Bemerkungen von Oppositionsführer und Labour-Chef Keir Starmer. "Ich denke nicht, dass irgendjemand diese Regierung glaubhaft beschuldigen könnte, zu irgendeinem Zeitpunkt selbstgefällig gewesen zu sein, was die Bedrohung durch das Virus angeht.

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