Pflege:Letzter Wille ungewiss

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In deutschen Pflege- und Altenheimen gilt derzeit ein allgemeines Besuchsverbot. (Foto: Peter Steffen/dpa)

Das Besuchsverbot in Pflegeheimen lässt Menschen verzweifeln. Zumal, wenn ein Angehöriger im Sterben liegt. Ausnahmen sind zugelassen, liegen aber im Ermessen der Heimleitungen.

Von Helena Ott, Berlin

Sechs Jahre hat Edith Scharm aus Regensburg ihren schwer demenzkranken Mann gepflegt, zuerst zu Hause, später ist sie täglich nach der Arbeit ins Pflegeheim gefahren. Im Gegensatz zu den Pflegekräften hatte sie Zeit, sich lange neben ihn ans Bett zu setzen und ihm Schluck für Schluck den Tee einzuflößen. Nach einer halben Stunde hatten die beiden dann gut einen halben Liter geschafft, sagt Scharm am Telefon. Sie arbeitet als Lehrerin an einer Realschule, an den Wochenenden holte die 54-Jährige ihren Mann zu sich nach Hause. Am 8. März brachte sie ihn das letzte Mal zurück ins Heim. Dann wurden Edith Scharm und andere Angehörige zum Schutz der Bewohner vor Coronaviren ausgesperrt. Drei Wochen später starb ihr Mann, alleine, ohne sie, vermutlich an einem Schlaganfall, sagte der Arzt.

Was alte Menschen, die zu einer Hochrisikogruppe für einen schweren Verlauf der Covid-19-Krankheit gehören, schützen soll, führt bei vielen Pflegebedürftigen und ihren Familien derzeit zu Verzweiflung. Von Mitte März an wurden die Verordnungen der Bundesländer immer wieder verschärft. Nun gelten bundesweit in Pflegeeinrichtungen weitreichende Besuchsverbote. Nur die Landesregierungen in Berlin und Thüringen gewähren jedem Pflegebedürftigen noch einen Besucher pro Tag für eine Stunde. Die Landesregierungen lassen für Palliativstationen und Menschen, die im Sterben liegen, Ausnahmen zu, die sind aber nicht eindeutig formuliert. Häufig heißt es dort, Ausnahmen seien zulässig wenn es "medizinisch oder sozial-ethisch erforderlich" ist. Damit liegt es am Ende im Ermessen der Heimleitungen, wie liberal sie die Ausnahmen auslegen.

Der Mangel an Schutzausrüstung sei Ursache für die Isolation

Manuela N. aus Niederbayern hat mehrmals versucht, die Heimleitung des Kurzzeitpflegeheims ihres Vaters umzustimmen. Ende März wurde ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Laut Arztbefund wird er in den nächsten Wochen sterben. Im Pflegeheim wurde ihr gesagt, dass sein Zustand noch zu stabil sei, um vom Besuchsverbot abzuweichen. "Es geht jetzt wirklich um den letzten Willen, den kann er uns doch nicht mehr sagen, wenn er nicht mehr ansprechbar ist", sagt N. Sie hat ihren Vater seit der Krebsdiagnose nicht besuchen können, er hört schlecht, sodass sie nicht richtig mit ihm telefonieren kann.

Von Mitte März an erreichten den Pflegeschutzbund BIVA, der bundesweit die Interessen von Pflegebedürftigen vertritt, immer mehr Hilferufe, sagt BIVA-Mitarbeiter David Kröll. Angehörige von Schwerkranken und Sterbenden berichten, dass auch sie an den Eingangstüren der Pflegeheime abgewiesen werden. "Wir gehen davon aus, dass viele Heime die Besuchsverbote sehr restriktiv auslegen, weil die Unsicherheit und Angst vor infizierten Bewohnern oder Personal sehr groß ist." Bei einer Online-Umfrage des BIVA gaben 90 Prozent der Befragten an, dass sie keine Möglichkeit mehr haben, ihre Angehörigen zu sehen. Die Meldungen aus Würzburg und Wolfsburg, wo in zwei Pflegeheimen mehr als 20 Bewohner gestorben sind, erhöhen den Druck auf Heimleitungen.

"Der eigentlich Skandal", sagt Kröll, sei, dass derzeit nicht genügend Schutzausrüstung verfügbar ist und die Bewohner deshalb "so scharf isoliert" werden müssten. Die Gesundheit der Bewohner und des Personals stehe auch für das Team vom Pflegeschutzbund an oberste Stelle. Es sei aber ein "menschliches Grundbedürfnis", dass sich Sterbende von ihren Familien verabschieden können. Das zuzulassen, sei "ein Gebot der Menschlichkeit", sagt Kröll.

Auch Benno Bolze, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes sagt, es müssten beide Punkte berücksichtigt werden: Den Schutz der Bewohner der gesamten Einrichtungen sicherzustellen, aber auch möglichst viele Besuche für sterbende Menschen möglich zu machen.

Wer einen Demenzkranken betreut, der lernt, Abschied zu nehmen, die Erinnerung wird durchlässiger, "der Geist wird zerfressen", sagt Edith Scharm. Am meisten fehlt ihr nicht das Abschiednehmen, mehr leidet sie darunter, dass sie ihren Mann in den letzten drei Wochen nicht trösten und für ihn da sein konnte. Demenzkranke brauchen ihre gewohnte Umgebung und Bezugspersonen, wenn das wegfällt, reagieren sie oft mit Angst und Unsicherheit, sie wehren sich gegen die Pflege oder stürzen häufiger. Mitte März musste der Mann von Edith Scharm nach einem Sturz wegen einer Platzwunde im Krankenhaus genäht werden. Das Besuchsverbot galt weiterhin. An der Stelle, an der es Menschenleben wirklich schützt, findet die Regensburgerin das Besuchsverbot richtig. Aber bei schwer Demenzkranken sei es "eine so brutale Sache", da müsse mehr auf den Einzelfall geachtet werden.

Michaela N. versteht nicht, warum sie nicht mit Mundschutz zu ihrem Vater ins Pflegeheim darf. Sein Leben sei durch den aggressiven Krebs nicht zu retten und ihr Vater habe ein Einzelzimmer. "Ich finde das sehr unmenschlich", sagt N. In ihren Augen traue sich einfach niemand die Verantwortung zu übernehmen für Ausnahmen, die ja eigentlich zugelassen sind.

Am Abend vor seinem Tod rief sie noch einmal an

Im St. Elisabeth Pflegeheim im oberfränkischen Wallenfels wollte das Pflegepersonal verhindern, dass Bewohner "ihren letzten Weg", wie Cornelia Thron vom Caritasverband Kronach sagt, alleine gehen müssen. In einem ehemaligen Besprechungsraum wurde ein "Abschiedszimmer" eingerichtet. Der Raum im Erdgeschoss hat mehrere große Fenster und eine Glastüre, durch die die Angehörigen von außen hereinkommen können, ohne das restliche Pflegeheim zu betreten. "Das ist jetzt das schönste Zimmer bei uns im Pflegeheim", sagt Thron, zweimal sei der Raum bisher von Bewohnern belegt worden. Aber Heime, die solche Ausnahmen möglich machen können und wollen, sind rar. Vereinzelt hört man, dass Pflegebedürftige ihre Verwandten über ein Fenster sprechen können, oder in den Garten gebracht werden, um sie kurz zu treffen.

Edith Scharm quält der Gedanke, dass sie ihrem Mann nicht mehr die Hand halten konnte. Aber am Abend bevor er gestorben ist, hatte sie noch einmal beim Nachtdienst angerufen, der Pfleger hat ihrem Mann den Hörer ans Ohr gehalten. Von diesem Abend hat sie eine knappe Botschaft, für die sie sehr dankbar ist: "Ja", und sie konnte noch einmal seine Stimme hören.

© SZ vom 08.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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