Covid-19 in NRW:"Jetzt beginnt eine klamme Zeit"

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Am Dienstag ist das Coronavirus über Gangelt, direkt an der niederländischen Grenze, hereingebrochen. (Foto: Lukas Schulze/Getty Images)
  • Seit das Coronavirus in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Gangelt angekommen ist, steht das öffentliche Leben still. Etwa 400 Menschen befinden sich in Quarantäne - darunter auch 65 Kindergartenkinder.
  • Von den 20 bestätigten Corona-Fällen in NRW werden drei Infizierte im Krankenhaus behandelt, die anderen 17 befinden sind in häuslicher Isolation.
  • Mindestens sieben Infizierte feierten am 15. Februar zusammen Karneval.
  • Gangelts Bürgermeister versucht mit den Lebensmittel-Händlern im Ort einen Lieferservice aufzubauen.

Von Christian Wernicke, Gangelt, und Jana Stegemann, Düsseldorf, Gangelt/Düsseldorf

Ruhe bewahren, das ist jetzt erste Bürgerpflicht für Bernhard Tholen. "Ich will nicht zu irgendwelcher Panik beitragen", sagt der Bürgermeister von Gangelt. Betont gelassen erzählt der 62-jährige Mann mit dem Stoppelhaarschnitt, wie er durch die Straßen seiner Gemeinde geht und dabei nach wie vor Menschen berührt: "Wenn ein Bürger mir die Hand hinhält - ja, dann greife ich zu."

Tholen zuckt mit den Schultern, er weiß, dass am Donnerstagmorgen wieder vier Mitarbeiter fehlten im Rathaus seiner 12 000-Einwohner-Stadt. Sie sitzen daheim in Quarantäne, aus Vorsorge. Der Bürgermeister lächelt gequält: "Und ich weiß, es wird noch mehr Infizierte geben."

Leben in Zeiten von Corona. Am Dienstag um exakt 23.08 Uhr ist diese Wirklichkeit über Gangelt, einer Vereinigung von 19 Ortschaften und Dörfern direkt an der niederländischen Grenze, hereingebrochen. Tholen kramt sein Handy aus der Jacke, zeigt die Textnachricht: "Die Infizierten kommen aus der Gemeinde Gangelt," steht da weiß auf grün. Tholen, seit 23 Jahren im Amt, wusste: "Jetzt beginnt eine klamme Zeit." Nun blickt die ganze Republik auf seinen Ort. Am Mittwochabend verschärft Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerium die Formulierung, es gibt bekannt: "Gangelt kristallisiert sich derzeit als Schwerpunkt der COVID-19-Infektionen im Kreis Heinsberg heraus."

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Ein Ehepaar aus der Gemeinde - ein 47-jähriger Unternehmer und seine 46 Jahre alte Frau, die als Erzieherin im örtlichen Kindergarten arbeitet - wurde am Montagabend zu den ersten bestätigten Corona-Fällen in NRW. Das Paar wird isoliert im Uniklinikum Düsseldorf wegen seiner Lungenentzündungen behandelt. Der Unternehmer ist unverändert in einem kritischen Zustand. Um die beiden Kinder des Paares kümmert sich die Großmutter. Dann kamen vier weitere bestätigte Corona-Fälle hinzu. Alle sechs kommen aus Gangelt, alle hatten miteinander Kontakt.

Am Donnerstagabend erhöhen die Behörden die Zahl: Es gebe 14 neue Fälle in NRW, neun weitere Personen aus Gangelt, zwei aus Selfkant, eine aus Heinsberg, eine aus Düsseldorf und eine aus Herzogenrath.

Die Kita im Ort ist längst geschlossen, 65 Kinder warten mit ihren Eltern in häuslicher Isolation auf Testergebnisse, die Abstriche wurden aber erst am Donnerstag gemacht. Es hätte jeden Ort in NRW treffen können. Aber nun ist es eben Gangelt. Am Dorfeingang von Langbroich stoppt ein Bauer seinen Lieferwagen, genervt schaut er zu, wie noch ein Fernsehteam sein Haus filmt: "Die treiben Schindluder mit uns." Nein, er selbst habe keine Angst vor dem Virus. Zu Karneval, als sich andere wohl ansteckten, lag der Landwirt mit Grippe im Bett. Argwöhnisch beobachten zwei Hausfrauen fremde Passanten, eine kommt zur Tür: "Klar, alle sind beunruhigt", sagt die Frau, "aber solange ich keine Symptome verspüre, muss ich keinen Test machen."

Was den Bürgermeister aus der Fassung bringt: Wie alle über den möglichen "Patient null" herfallen

Schulen, Kindergärten, öffentliche Behörden bleiben zu; auch das Rathaus ist geschlossen, mindestens bis zum 2. März. Bürgermeister Tholen sitzt dennoch im ersten Stock hinter seinem Schreibtisch. Der Christdemokrat berät die Lage mit der katholischen Gemeinde ("Messe ja, aber ohne Abendmahl"), bittet den Tennisverein, aufs Turnier am Wochenende zu verzichten. Und sagt den geplanten Volkslauf ab. Oder er beruhigt die verzweifelte Frau, die nach ihrer Rückkehr aus Italien vier Stunden vergeblich versuchte, jemanden im Gesundheitsamt der Kreisverwaltung Heinsberg ans Telefon zu kriegen.

Leicht aus der Fassung bringt den Bürgermeister nur, wie alle über jenen 47-jährigen Mann aus Gangelt-Langbroich herfallen, der im Krankenhaus um sein Leben ringt. Der Mann hatte in Langbroichs Bürgertreff am 15. Februar Karneval gefeiert - und war nur Tage danach, geschwächt nach einer überstandenen Chemotherapie, als Erster erkrankt. "Alle fixieren sich jetzt auf den", sagt Tholen, "als sei der ein Übeltäter." Es könne genauso gut sein, dass sich auch dieser Bürger erst bei der Veranstaltung angesteckt habe. Wer das Virus nach Gangelt gebracht habe, sei völlig unklar: "Wer diese sogenannte Person null ist, weiß niemand." Nur: Genau deshalb - weil hier die Infektionskette gerissen ist - nimmt Gesundheitsminister Jens Spahn am Mittwochabend in Berlin das E-Wort in den Mund: "Wir befinden uns am Beginn einer Corona-Epidemie."

Das Ehepaar habe in den vergangenen zwei Wochen "unendlich viele private und berufliche Kontakte" gehabt, sagte Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Der Mann hatte sich zuvor etwa in zwei Arztpraxen und der Uniklinik Köln behandeln lassen. Das Paar nahm am Samstag vor 13 Tagen an der traditionellen Kappensitzung des örtlichen Karnevalsvereins teil. Etwa 300 Karnevalisten, die meisten Einheimische, trafen sich zum Quatschen und Schunkeln. Auch dabei: ein Bundeswehrsoldat vom Militärflughafen Köln-Wahn, ein Arzt aus dem Mönchengladbacher Klinikum, eine Mitarbeiterin des Unternehmers und deren Lebensgefährte - sie werden später positiv auf das Virus getestet.

Alle zeigen zwar Grippesymptome, eine stationäre Behandlung im Krankenhaus ist aber bisher nicht erforderlich. Am Rosenmontag fuhr der 47-Jährige mit seiner Ehefrau ins Krankenhaus nach Erkelenz. Er litt unter Fieber und Husten, auf der Intensivstation versagte seine Lunge. Der Kreis Heinsberg rief alle Teilnehmer der Kappensitzung dazu auf, sich zu melden - mit Erfolg. Gerüchte über eine drohende Ausgangssperre gehen seitdem um. Dann säßen nicht mehr nur wie am Donnerstag etwa 400 Menschen zu Hause in Quarantäne, dann träfen 12 000 Bürger Ausgangssperre und Isolation von der Außenwelt. Bürgermeister Tholen streicht sich übers Kinn: "Wenn man sieht, dass in Italien ganze Orte hermetisch abgeriegelt werden, und dass das offenbar zu Erfolgen führt ..." Pause. "Tja, dann kann ich so ein Szenario für uns nicht mehr ausschließen."

Seit Mittwoch telefoniert Tholen mit den Lebensmittel-Händlern im Ort. Die sollen kurzfristig einen Lieferservice aufbauen. "Kein Bürger sollte gezwungen sein, seine Quarantäne zu verlassen, weil er daheim nichts im Kühlschrank hat," sagt Tholen. Nur, so einfach ist das nicht. Dem lokalen Rewe-Händler fehlt für die Auslieferung bisher das Personal.

© SZ vom 28.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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