Nach der Krise ist vor der Krise, das gilt für Griechenland leider seit Langem. Nachdem das Land die Euro-Turbulenzen halbwegs überstanden und jüngst den Ansturm von Migranten aus der Türkei mit drastischen Maßnahmen abgewehrt hat, naht das nächste Unheil in Gestalt des Coronavirus. Neben den wirtschaftlichen Verwerfungen, die es anrichten wird, droht eine humanitäre Katastrophe auf den Inseln, die Migranten beherbergen.
"Wir machen uns große Sorgen", sagt George Makris von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen der Süddeutschen Zeitung. Die Hygiene in den Lagern sei schlecht, Abstand halten unmöglich, deshalb ließe sich das Virus kaum eindämmen.
Auf Lesbos, wo Makris arbeitet, sind drei Coronafälle bestätigt, außerhalb des Lagers Moria. Dort leben mehr als 20 000 Menschen auf engstem Raum, überwiegend in dünnen Zelten, Tausende haben keinen direkten Zugang zu Wasser. Auf den Inseln gebe es kaum Intensivbetten und nur wenig Testmöglichkeiten.
Aus Sicht der Helfer gibt es nur eine Lösung: Die Lagerbewohner müssten auf das Festland gebracht werden, und zwar zunächst die Kranken und Geschwächten. Die griechische Regierung und die EU stünden in der Verantwortung, dies zu organisieren.
Im EU-Parlament teilt man die Befürchtung. Es müsse dringend etwas unternommen werden, forderte der Vorsitzende des Innenausschusses Juan Fernando López Aguilar in einem Brief an die EU-Kommission, aus dem Politico zitierte. Die humanitäre Krise auf den griechischen Inseln drohe zu einem Gesundheitsproblem zu werden, das eine "sofortige europäische Antwort" nötig mache.
Die griechische Regierung hat bisher eine Umsiedlung von Flüchtlingen aufs Festland verweigert. Schließlich gebe es noch keine Ansteckung in den Lagern. Vor einer Woche hatte sie die Bewegungsfreiheit der 42 000 Lagerinsassen beschränkt. Demnach dürfen sie die Camps nur in kleinen Gruppen verlassen, um Lebensmittel zu besorgen, und jeweils nur eine Person pro Familie.
Vordenker des EU-Türkei-Deals fordert "humanitäre Luftbrücke"
Zuvor waren die Lager für Neuankömmlinge geschlossen worden. Der Politikberater Gerald Knaus, Vordenker des EU-Türkei-Deals, fordert seit mehreren Tagen die Evakuierung der Lager. Sein Plan sieht vor, etwa 35 000 Menschen auf das Festland zu bringen, zunächst in Zeltstädten, später in festeren Unterkünften.
Um die Griechen zu entlasten, sollten die EU-Staaten davon 10 000 anerkannte, ausreisewillige Flüchtlinge aufnehmen, mit organisatorischer Hilfe durch die Internationale Organisation für Migration, die auch Gesundheitstests bereitstellen könnte. Knaus spricht von einer "humanitären Luftbrücke" und erinnert an die Evakuierung der 7000 Juden aus Dänemark, die 1943 vor der Deportation in Konzentrationslager gerettet wurden.
Die EU-Kommission schlug der griechischen Regierung am Dienstag vor, ältere und kranke Menschen zumindest auf andere Teile der griechischen Inseln zu bringen.
Vordergründig ist die Lage auf Lesbos, wo Anfang des Monats gewalttätige Gruppen Flüchtlinge, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Journalisten attackiert hatten, derzeit vergleichsweise ruhig. Wie im ganzen Land gilt seit Montag eine Ausgangssperre, der Weg zur Arbeit, zum Arzt, zum Einkaufen oder kurze Spaziergänge sind weiterhin erlaubt; allerdings muss man sich dafür per Formular oder per SMS an das Zivilschutz-Ministerium registrieren.
Demonstrationen gegen die Anwesenheit von Flüchtlingen sind nicht Bestandteil des Ausnahmen-Katalogs - es scheint wenigen Leuten der Sinn danach zu stehen. "Jetzt haben alle einen gemeinsamen Feind", sagt Michalis Aivaliotis, Gründer der lokalen Hilfsorganisation Stand By Me Lesbos, der SZ, "nämlich das Corona-Virus".
Die Polizei wage sich offenkundig nicht mehr in das überfüllte Flüchtlingslager Moria, und viele Flüchtlinge trauten sich nicht mehr in die Stadt zum Einkaufen, ihrerseits aus Angst, "allerdings ist es bei ihnen vor allem die Angst vor Übergriffen", sagt Aivaliotis.
Die Regierung ist bemüht, die Ängste der Griechen zu zerstreuen
Seine Organisation verteilt in Moria Händedesinfektionsmittel und Plakate mit Hinweisen, wie man sich so gut es geht vor dem Virus schützen kann. Bislang ist noch kein Corona-Fall in dem Flüchtlingslager registriert, aber wenn es passiert, wäre die Lage kaum unter Kontrolle zu bringen. "Und wer weiß, was dann hier los ist, wenn die Einheimischen die Flüchtlinge auch noch als potenzielle Virus-Überträger betrachten."
Griechenland zählte Anfang der Woche 695 Corona-Fälle. Die Regierung geht davon aus, dass 8000 bis 10 000 Menschen infiziert sein könnten. In einer Videokonferenz der Regierung rechtfertigte Premier Kyriakos Mitsotakis am Dienstag die Ausgangsbeschränkungen: "Die vielen haben sich ungerecht behandelt gefühlt, als sie sahen, wie die wenigen die Richtlinien der Regierung missachtet haben."
Noch Ende vergangener Woche waren viele Griechen aus den Großstädten in ihre Sommerhäuser auf den Inseln gereist, wo schon jetzt die medizinische Versorgung mitunter schwach ist.
Würde sich das Virus gleichzeitig auf einer Reihe kleiner Inseln ausbreiten, wäre das seit der Finanzkrise angeschlagene griechische Gesundheitssystem schnell überfordert. Wobei Finanzminister Christos Staikouras sich am Montag in einer Fernsehansprache bemühte, die Ängste der Bevölkerung zu zerstreuen: Das Land habe genügend finanzielle Ressourcen, um die Pandemie effektiv zu bekämpfen, und der wirtschaftliche Schaden werde reversibel sein.
Die Frage, wie groß dieser Schaden ausfällt, hängt wesentlich davon ab, wie lange die aktuellen Reisebeschränkungen aufrechterhalten werden: Die Volkswirtschaft des Landes stützt sich zu mehr als einem Viertel auf den Tourismus. Sollte dieses Jahr die Sommersaison, die normalerweise im Juni beginnt, weitgehend ausfallen, wäre die jüngste Erholung der griechischen Wirtschaft großenteils zunichte.