Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch Instituts, hat vor kurzem eindringlich gewarnt: "Tröpfchen fliegen besonders weit beim Singen." Das Coronavirus kann sich dann leicht verbreiten, wie mehrere Fälle aus den vergangenen Wochen zeigen, darunter der Gottesdienst einer Frankfurter Baptisten-Gemeinde.
Die Gläubigen der deutsch-russischen Freikirche waren besonders unvorsichtig. Sie hielten vermutlich keinen großen Abstand, trugen keinen Mund-Nasen-Schutz und sangen während der Feier. Etwas mehr als 200 Personen im Umfeld der Gemeinde sind laut Frankfurter Gesundheitsamt inzwischen positiv auf das Virus getestet worden.
Auch wenn dieser Fall nicht mit dem Verhalten anderer Kirchen nicht vergleichbar ist, so überrascht doch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage von NDR und WDR. In rund einem Drittel der Kirchengemeinschaften in Deutschland darf beim Gottesdienst gesungen werden, wenn auch "in reduzierter Form". Das bedeutet: Es soll nicht laut gesungen werden oder die Anzahl der Lieder wird reduziert. Alle Besucher müssen eine Maske tragen und einen größeren Abstand einhalten. Zudem sollen die Gottesdienstbesucher in der Regel ein eigenes Gesangbuch mitbringen.
NDR und WDR haben alle Bundesländer befragt, die 27 katholischen Bistümer, die 20 evangelischen Landeskirchen sowie elf Dachverbände von orthodoxen und anglikanischen Religionsgemeinschaften und Freikirchen. Der Umfrage zufolge haben zahlreiche Bundesländer keine verbindlichen Regeln zum Gesang im Gottesdienst verfügt, sondern überlassen das den Kirchen. Diese wiederum handhaben den Umgang mit der Ansteckungsgefahr ganz unterschiedlich.
In 35 der 58 Kirchengemeinschaften ist der Gesang der Gemeinde entweder nicht erlaubt oder die Kirchen empfehlen dringend, darauf zu verzichten. In 20 Bistümern, Landeskirchen und Kirchenverbänden ist Gemeindegesang jedoch möglich, in der Regel mit Auflagen wie der Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Schutz oder größerem Abstand zwischen den Besuchern als sonst vorgeschrieben. In zwei Religionsgemeinschaften gibt es keine Vorgaben, in einem weiteren Fall fanden bislang noch keine Gottesdienste statt.
Eine einheitliche Linie gibt es nicht
Die katholische Deutsche Bischofskonferenz teilte mit, es bestehe kein Grund, auf Gesang zu verzichten, sofern die Abstandsregeln eingehalten werden. Es solle nur nicht laut gesungen werden. Vor Ort wird das sehr unterschiedlich gehandhabt. In elf Bistümern ist Gemeindegesang in "reduzierter Form" möglich. Das Bistum Münster macht den "örtlich Verantwortlichen", also den einzelnen Kirchengemeinden, überhaupt "keine Vorgaben bezüglich des Gesangs in Gottesdiensten".
Im Bistum Eichstätt in Bayern ist Gemeindegesang "allenfalls in sehr reduzierter Form vorzusehen, da Singen ein besonderes Risiko (Tröpfcheninfektion) birgt." Auf Chorgesang wird ganz verzichtet. Das Bistum Eichstätt verweist auf ein Schutzkonzept, das die katholischen Kirchen in Bayern mit der Landesregierung abgestimmt haben. Die Besucher der Gottesdienste müssen eine Maske tragen. Das gilt auch dann, wenn gesungen werden sollte.
In 15 Bistümern gelten dagegen strengere Regeln. Sie untersagen Gemeindegesang vollständig oder empfehlen ihren Gemeinden dringend, darauf zu verzichten.
Sehr unterschiedlich wird auch in der Evangelischen Kirche Deutschlands mit dem Infektionsrisiko umgegangen. Die Evangelische Kirche hatte in einem Ende April veröffentlichten Eckpunktpapier zur "verantwortlichen Gestaltung von Gottesdiensten" einen Rahmen für die Verhandlungen zwischen Landeskirchen und Bundesländern geschaffen. In dem Papier heißt es, auf Gemeindegesang solle verzichtet werden.
Die Landeskirchen in Bayern, in der Pfalz und in Sachsen weichen jedoch davon ab. Dort ist "reduzierter Gemeindegesang" möglich - obwohl in Sachsen und Rheinland-Pfalz auch die Landesregierungen davon abraten. Die Sprecher dieser Landeskirchen begründeten ihr Vorgehen auf Anfrage von NDR und WDR mit der Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes. Die Evangelische Kirche in Bayern erklärte, dass die Masken beim "reduzierten Singen" den "Ausstoß von Aerosolen so wirksam" reduzierten, dass bei den ebenfalls erforderlichen Abständen der Gläubigen in den Gottesdiensten eine Ansteckung "unwahrscheinlich" sei.
Auch bei den übrigen Kirchengemeinschaften gibt es keine einheitliche Linie.
Die koptisch-orthodoxe Kirche in Frankfurt hat keine Regelung zum Gesang, es gilt jedoch die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland rät, auf Gemeindegesang zu verzichten oder und andernfalls die Liedtexte groß auf Folien zu zeigen, statt Gesangbücher auszugeben.
An dem Gottesdienst der Frankfurt-Rödelheimer "Evangeliums Christen Baptisten" am 10. Mai, bei dem sich zahlreiche Menschen mit dem Corona-Virus ansteckten, haben nach Angaben des Frankfurter Gesundheitsamtes ungefähr 180 Menschen teilgenommen. Damit ist es unwahrscheinlich, dass im Versammlungsraum der vorgeschriebene Abstand von 1,50 Metern eingehalten werden konnte, wie die Gemeinde behaupte. Die Besucherzahl in dem um ein Vielfaches größeren Frankfurter Dom zum Beispiel ist derzeit auf 70 begrenzt.