Covid-19 in der Türkei:"Wir brauchen Ausgangssperren, die Beschränkung jeder gesellschaftlichen Mobilität"

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Eine Straßenbahn fährt fast menschenleer die Istiklal Caddesi in Istanbul entlang. (Foto: dpa)

Auch in der Türkei erwartet man nun "eine historische Katastrophe". Der Chef des türkischen Ärzteverbands über dringend notwendige Maßnahmen, nach dem Putsch entlassene Mediziner und die Rolle der Mekka-Pilger.

Interview von Tomas Avenarius, Istanbul

Nachdem die türkische Regierung lange den Eindruck erweckt hat, als bliebe das 83-Millionen-Einwohner-Land von Covid-19 weitgehend verschont, warnt Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nun vor der Möglichkeit "einer historischen Katastrophe". Bülent Nazım Yılmaz, Generalsekretär des türkischen Ärzteverbands TTB, hat die Corona-Politik der Regierung schon sehr früh kritisiert.

Der Gesundheitsminister verkündet täglich neue Zahlen, anfangs waren sie ungewöhnlich niedrig, jetzt sprechen sie eine andere Sprache. Glauben Sie den Zahlen der Regierung überhaupt noch?

Bülent Nazım Yılmaz: Na ja, wir müssen dem Gesundheitsministerium ja vertrauen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in so einer Situation Fakten verheimlicht werden. Das Problem sind aber nicht die Zahlen, sondern die Zählweise: Wir wissen, dass es bei der Aufnahme in die Krankenhäuser ein Klassifizierungsproblem gib. Wenn ein Patient mit einer "ansteckenden Krankheit" aufgenommen wird, wird er nicht als Covid-19-Fall gezählt - obwohl er vielleicht ein Corona-Patient ist.

Wie kann das sein?

Das Gesundheitsministerium listet nur die eindeutig positiven Ergebnisse als Covid-19-Fälle. Alle anderen typischen Corona-Symptome fallen unter den Tisch. In China wurden 40 Prozent der zunächst negativ-getesteten Fälle später als Covid-19 diagnostiziert. Diagnose und Einstufung also sollten nicht nur nach dem Testergebnis, sondern nach allgemeinen klinischen Bewertungen erfolgen. Wäre das so, wären die Zahlen für die Türkei längst höher. Aber wir dürfen die Gesellschaft bei all dem auch nicht in Panik versetzen.

Ohne Panikmache - was läuft falsch?

In der Türkei - und in Westeuropa - gibt es keine gesellschaftsbasierten Gesundheitssysteme mehr. Vorsorge wurde zurückgefahren, akute Behandlung und Technologie traten in den Vordergrund. So wird man einer Pandemie nicht Herr.

Sondern wie?

Besser wäre es, Tests auf Stadtviertelebene durchzuführen. In kleinen Einheiten wie dem Stadtviertel lässt sich leichter feststellen, wer mit wem in Kontakt kam, wer im Ausland war. Die Tests sollten zu Hause durchgeführt, im Haus selbst Erkrankte und Risikoträger von den Gesunden getrennt werden. Es geht darum, das Problem fern von den Klinken zu halten. Die sind für die Schwerkranken da.

Reicht das schon?

Nein. Wir brauchen in der Türkei Ausgangssperren, die Beschränkung jeder gesellschaftlichen Mobilität. In der Wirtschaft muss jede unnötige Produktion gestoppt werden. Und testen, testen, testen: Wir brauchen täglich mindestens 40 000 Tests in der Türkei.

Wieviel wird getestet?

Aktuell nur etwa 18 000 Personen täglich, zu Beginn waren es gerade mal etwas mehr als 1000. Das Virus hat sich daher im ganzen Land verbreitet. Vor allem müssen wir Ärzte und medizinischen Personal testen, die sind extrem gefährdet, aber auch Multiplikatoren für eine Ansteckung.

Istanbul ist das Epizentrum. Lässt sich das Virus in der 16-Millionen-Stadt stoppen?

Da muss die Regierung sich sehr anstrengen. Das Gesundheitsministerium muss sofort das pensionierte medizinische Personal zur Arbeit zurückrufen, das sind Tausende Ärzte und Fachkräfte. Umso absurder ist es, dass 15.000 Personen aus dem Gesundheitsbereich nach dem Putschversuch von 2016 durch Regierungsdekrete zwangsentlassen wurden, die meisten aber längst freigesprochen worden sind. Die dürfen nicht in Staatseinrichtungen arbeiten. Wir müssen in der Krise aber jede Ressource nutzen.

Wie viele Ärzte, wieviel Intensivbetten gibt es für die 16 Millionen Istanbuler?

Es gibt mehr als 50 000 Fachärzte, auf 100 000 Bewohner kommen 219 Fach-, Allgemein- und Assistenzärzte. Aber in Istanbul ist es besser als in andere Städten, die Türkei hat nur 153 000 Mediziner.

Und die Kliniken?

Unser Gesundheitssystem ist zweigleisig: Es gibt staatliche Krankenhäuser und teure Privatkliniken. Diese Kliniktypen müssten für die Dauer der Corona-Krise zusammengefasst werden. Nur so ist koordiniertes Vorgehen möglich. Keiner darf sagen können: "Ich lasse mich nur in einer Privatklinik behandeln."

Wie ist es auf dem Land?

Unser Grundproblem bei der Landbevölkerung sind die etwa 20 000 Pilger, die in Mekka waren und nach dem 8. März eingereist sind. Bei den ersten 8000 Wallfahrern wurde nur Fieber gemessen, in Quarantäne kamen die nicht. Sie sind nach der Rückkehr auf ihre Dörfer gefahren, viele ohne Test oder Quarantäne.

Ist dieser Zusammenhang eindeutig?

Ja: Am 16. März waren 586 Pilger in die Stadt Isparta gekommen, am 1. April gab es dort dann 268 Corona-Fälle, 245 davon Pilger. Die Behörden müssen sich auf die Pilger konzentrieren: Sie haben Adressen von allen, die aus Mekka kamen. Das Problem kann man an einem Tag lösen.

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