Chinas Ex-Staatschef Jiang Zemin:Ein Tod, der Wehmut weckt

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13 Jahre führte Jiang Zemin China. 2021 wurde sein Bild bei der Feier des 100-jährigen Bestehens der Kommunistischen Partei im Nationalstadion in Peking gezeigt. (Foto: Thomas Peter/Reuters)

Als Chinas Parteiführer setzte Jiang Zemin um die Jahrtausendwende auf wirtschaftliche Reformen. Für Peking kommt sein Tod nun in einem sehr sensiblen Moment.

Von Lea Sahay

Zu Beginn waren es kleine Gemeinheiten, später schwang vorrangig Respekt mit, wenn die Chinesen im Netz über Jiang Zemin sprachen. Im Volk wurde er gerne "der Senior" genannt, online vor allem "Frosch", weil er mit seinem breiten Gesicht, den überdimensionalen Brillengläsern und der hochgezogenen Hose eine gewissen Ähnlichkeit mit dem Tier aufweisen sollte.

Es waren überwiegend die Jüngeren, die sich als "Krötenverehrer" zur "Froschbewegung" zählten. Dabei ging es weniger um Jiangs tatsächlichen Regierungsstil, der hart und rücksichtslos war. Menschenrechte kannte er nur als Recht auf Existenz. Alle Faktoren, die die Stabilität gefährdeten, sollten "im Keim erstickt" werden. Auf einen Vergleich mit Chiles Diktator Augusto Pinochet reagierte er zwar 1996 empört. "Ich bin doch kein Diktator", sagte Jiang. Doch unter seiner Herrschaft wanderten viele Bürgerrechtler in Haft. Politische Reformen schloss er aus: "Chinas politisches System darf niemals erschüttert werden."

Insofern war es vor allem die Ablehnung der aktuellen Führungsriege unter Parteichef Xi Jinping, die Jiangs Fangemeinde in den vergangenen Jahren wachsen ließ.

Die Demonstranten überlegen, eine Andacht zum Protest zu nutzen

Die Sehnsucht nach einer anderen Politik ist in vielen Bildern mit Sprüchen festgehalten, die sich Chinesen in den sozialen Netzwerken schicken. Da ist die legendäre Szene aus der Großen Halle des Volkes in Peking im Jahr 2000. Eine Hongkonger Journalistin ruft Jiang eine Frage zu, dieser kontert: "Sie gehen auf der Jagd nach Schlagzeilen überall hin. Aber die Fragen, die Sie stellen, sind zu einfach, zu naiv", sagt Jiang.

Ein solcher Schlagabtausch ist im heutigen China fast unmöglich. Xi trifft sich nicht mit Journalisten, Reden liest er vom Blatt ab, Fragen sind in Pressekonferenzen vorgegeben. 1998 diskutierten US-Präsident Bill Clinton und Jiang sogar live im Fernsehen über Menschenrechte. Undenkbar wäre auch, dass Xi sich positiv über amerikanische Ideen äußert. Jiang zitierte gerne Abraham Lincoln, gegenüber Staatsgästen schwärmte er von Goethe und Shakespeare. Er redete dann Englisch, mit einem schweren chinesischen Akzent.

1997 prosten sich Jiang Zemin und der damalige US-Präsident Bill Clinton (r.) bei einem Dinner im Weißen Haus zu. Ein Jahr später debattierten sie sogar live im Fernsehen. (Foto: Greg Gibson/AP)

"Zu jung, zu einfach, zu naiv" ist zum Slogan einer Gemeinschaft im Netz geworden, die mehr Freiheiten von Peking fordert. An diesem Wochenende wurde dieser Widerstand zum ersten Mal auch auf der Straße sichtbar, als sich Menschen mit weißen Blättern in mehreren Städten versammelten. Während in den sozialen Netzwerken alle Spuren der "Din-A4-Revolution" gelöscht werden, diskutierten am Mittwoch einige, ob eine Andacht für Jiang nicht ein Vorwand sein könnte, sich zu treffen. "Wenn es nicht einmal erlaubt ist, beim Tod eines wichtigen Parteiführers seinen Respekt auszudrücken, wird Xis Prestige in der Partei noch weiter sinken", hieß es da.

Die öffentliche Trauer über den Tod von Parteichef Hu Yaobang im April 1989 gilt als Auslöser für das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Bei einer großen Rede seines Nachnachfolgers Xi saß er im Publikum - und gähnte

Jiang galt immer ein wenig als Witzbold, vielleicht sogar als etwas ungehobelt. 1996 kämmte er sich vor dem spanischen König die Haare, während dieser verdutzt guckte. Beim Parteitag 2017 verfolgte Jiang auf dem Podium mit einer loriothaft-großen Lupe die dreistündige Rede von Parteichef Xi Jinping, der über seine Theorie des "Sozialismus für eine neue Ära" redete. Jiang schien dabei so müde oder gelangweilt zu sein, dass er immer wieder seinen Mund weit öffnete, gähnte und auf die Uhr schaute. Krötenverehrer tragen Fotos des gähnenden Jiang auf T-Shirts oder auf ihren Handyhüllen.

Auf dem Podium erklärt Xi Jinping 2017 seine Theorie des "Sozialismus für eine neue Ära". Jiang Zemin liest nach - mit ziemlich großer Lupe. (Foto: Nicolas Asfouri/AFP)

13 Jahre war er Chinas Staatsoberhaupt und Vorsitzender der Kommunistischen Partei. Seine Ernennung war eher ein Zufall. Jiang, der 1926 in der Nähe von Shanghai geboren wurde, wuchs in einer intellektuellen Umgebung auf. Sein Vater war Schriftsteller und Elektriker, seine Mutter Bäuerin. Da sein Onkel keinen Sohn hatte und als sogenannter Märtyrer der Revolution eine besondere Position in der Gesellschaft genoss, übernahm dessen Familie Jiangs Erziehung.

Der junge Chinese besuchte eine amerikanische Missionsschule, studierte Elektroingenieurswesen an einer der besten Universitäten des Landes, trat noch vor Gründung der Volksrepublik 1946 der KP bei. 1955 arbeitete der junge Mann ein Jahr in einem Automobilwerk in Moskau, fast 15 Jahre war er in der Industrie tätig.

Seine Ausnahmekarriere begann mit der Wirtschaftsreformpolitik des Obersten Führers Deng Xiaoping um 1978, er wurde erst Generalsekretär der Verwaltungskommission für Im- und Export, später dann Minister für Elektronik-Industrie. Parallel dazu gelang Jiang ein Aufstieg in der Partei. 1985 wurde er als stellvertretender Parteisekretär in Chinas damals größte Stadt Shanghai entsandt. Einen Monat darauf übernahm er das Amt des Bürgermeisters.

Eine "Übergangslösung"? Das widerlegte Jiang schnell

Kurze Zeit später begannen dort die ersten Demonstrationen von Studenten und Arbeitern, die nach Wirtschaftsreformen auch politische Reformen forderten. Anders als das von den Hardlinern im Politbüro durchgesetzte Massaker in Peking im Juni 1989 ließ Jiang nicht das Militär, sondern Parteimilizen und Aktivisten die Proteste in Shanghai beenden. An der Notwendigkeit der harten Linie in Peking ließ Jiang aber nie einen Zweifel entstehen.

Für Jiang zahlte sich seine Loyalität aus. Nach dem Sturz des Parteichefs Zhao Ziyang kurz vor der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 musste Deng Xiaoping schnell einen neuen Kandidaten finden, der von den verschiedenen Strömungen in der Partei unterstützt würde. Die Wahl fiel auf Jiang.

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Auch wenn er von vielen als "blass" und "Übergangslösung" bezeichnet wurde, gelang es ihm, seine Macht schnell auszubauen. In seiner Amtszeit legten marktwirtschaftliche Reformen und der Eintritt in die Welthandelsorganisation 2001 die Grundlage für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg. Den Höhepunkt seiner Macht aber erreichte Jiang erst nach seinem Abtritt im Jahr 2002. Anstatt sich zurückzuziehen, zog der abgetretene Staatsführer im Hintergrund weiter Strippen, setzte seine Inspektionsbesuche im Land fort und entschied über die Besetzung wichtiger Posten mit - sehr zum Verdruss seines Nachfolgers Hu Jintao.

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Erst nach Xis Amtsantritt 2012 verlor Jiangs Clique allmählich an Einfluss. Mithilfe einer Anti-Korruptionskampagne setzte der neue Parteichef das bis hoch in die Militärspitze reichende Netzwerk Jiangs unter Druck. 2015 kritisierte die staatliche Volkszeitung nicht näher genannte "pensionierte Führer", die sich an die Macht klammerten und weiter einmischten - eine Warnung an Jiang und seine Seilschaft.

In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Gerüchte um seinen Tod gegeben. Nun ist Chinas früherer Staats- und Parteichef Jiang Zemin im Alter von 96 Jahren gestorben.

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