Es war ein großes demokratisches Experiment, doch an seinem Ende steht nun erst mal ein "Nein". Bei einem Referendum hat sich am Sonntag eine überwältigende Mehrheit der Chilenen gegen den Entwurf einer neuen Verfassung ausgesprochen: Fast 62 Prozent der Wähler stimmten mit "rechazo", ich lehne ab, teilte die Wahlbehörde nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen mit. Nur 38 Prozent wählten dagegen "apruebo", ich stimme zu. Umfragen hatten ein solches Ergebnis schon seit Wochen vorausgesagt, dass es nun so eindeutig ist, kam für viele dennoch überraschend. Gegner der neuen Verfassung zogen feiernd und hupend durch die Hauptstadt Santiago.
Chiles Präsident Gabriel Boric, der sich von Anfang an für den Entwurf ausgesprochen hatte, wandte sich noch am Abend in einer Rede an die Bevölkerung. Er sähe zwei Botschaften im Ergebnis der Abstimmung: "Die Chilenen glauben an die Demokratie", sagte Boric. "Aber sie waren unzufrieden mit dem Vorschlag, den die Verfassunggebende Versammlung ausgearbeitet hat."
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Am Tag nach der klaren Niederlage sammelte Boric erste Kräfte für einen Neuanfang. Der deutlich abgelehnte Verfassungsentwurf hängt auch mit dem bislang glücklosen Auftreten der Linksregierung zusammen. Deshalb greift der Präsident zu einem bewährten Mittel in Krisensituationen: zu einer Kabinettsumbildung, die im Laufe des Dienstags vollzogen werden soll. Sie soll einen Neustart ermöglichen.
Mehr als ein Jahr hatten 154 vom Volk gewählte Vertreter an dem im Votum abgelehnten Entwurf gearbeitet. Wäre er angenommen worden, hätte Chile eine der progressivsten Verfassungen der Welt bekommen, mit besonderen Rechten für Minderheiten und einer festgeschriebenen Frauenquote von 50 Prozent für viele öffentliche Ämter.
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Der Entwurf sollte die aktuelle Verfassung ablösen, die noch aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) stammt. Ihre extrem wirtschaftsfreundlichen Vorgaben bescherten Chile in den vergangenen Jahrzehnten zwar einen enormen Aufschwung, von dem aber nicht alle profitierten. Große Teile der Daseinsfürsorge sind in privater Hand, von Bildung über Rente bis zur Gesundheitsversorgung.
Schon seit Langem gibt es immer wieder Demonstrationen. 2019 mündeten sie in riesige Massenproteste, an denen teilweise mehr als eine Million Menschen teilnahmen; es gab Hunderte Verletzte und mehr als zwei Dutzend Tote. Eine der Grundforderungen der Demonstranten war ein Volksentscheid zu der Frage, ob Chile eine neue Verfassung braucht oder nicht. Dabei stimmten im Oktober 2020 fast 80 Prozent der Chilenen mit "Ja". Eine Verfassunggebende Versammlung wurde gewählt, paritätisch besetzt mit gleich vielen Männern und Frauen und mit reservierten Sitzen für indigene Gruppen.
Viele Chilenen sind noch immer sehr konservativ
Der Entwurf, den sie ausarbeiteten, umfasst 388 Artikel, die von dem Recht auf freie Meinungsäußerung bis hin zum Recht auf gesunde Ernährung und freie Zeit reichen. Der Staat, so der Grundtenor, sollte die Daseinsfürsorge übernehmen in Bildung, Alters- und Gesundheitsversorgung. Indigenen Gruppen wurden Sonderrechte zugestanden und Chile gleich im ersten Artikel zu einem plurinationalen Staat erklärt. Werden in der aktuellen Verfassung indigene Völker nicht einmal genannt, sah der neue Entwurf vor, dass Chile sich aus verschiedenen Völkern mit eigener Kultur und Identität zusammensetzt. Indigene Rechtsprechung sollte eine größere Anerkennung erhalten und traditionelle Gemeinschaften bei Bauprojekten mehr Mitsprache bekommen.
Experten lobten den Entwurf als progressiv, inklusiv und umweltfreundlich. Vielen Chilenen aber gingen die Vorschläge zu weit. Große Teile der Bevölkerung sind immer noch sehr konservativ, erst seit etwa zwei Jahrzehnten ist in Chile die Scheidung gesetzlich geregelt, bis 2017 waren Abtreibungen grundsätzlich verboten. Mit der neuen Verfassung wäre der Staat nun aber dazu verpflichtet gewesen, die Voraussetzungen zu schaffen für Schwangerschaft und Geburt, ebenso wie für freiwillige Abtreibungen. Viele Chilenen fürchteten außerdem, dass neue Umweltauflagen und eine Stärkung der Gewerkschaftsrechte der Wirtschaft schaden würden.
Ebenso lehnten viele die Sonderrechte für indigene Gruppen ab, auch weil im Süden des Landes seit Jahrzehnten ein erbitterter Konflikt mit Aktivisten des Volkes der Mapuche tobt, die mit Anschlägen und Brandstiftung um Land und Unabhängigkeit kämpfen. Viele Artikel des Entwurfs waren außerdem schwammig formuliert: Es sollte ein "Recht auf Arbeit" festgelegt werden, ebenso wie auf "würdigen Wohnraum". Wie dies allerdings umgesetzt werden sollte, blieb unklar. Nun wird es nicht mehr so weit kommen: Der Verfassungsentwurf ist abgelehnt.
Wie soll es jetzt weitergehen? Rein technisch gesehen bleibt die alte Verfassung weiter in Kraft. Doch auch wenn die neue Verfassung erst mal gescheitert ist, so ist dennoch klar, dass sich viele Chilenen einen Wandel wünschen.
Chiles linke Regierung wird wohl versuchen, einige der Forderungen aus dem Entwurf über Gesetze umzusetzen. Die große Ablehnung ist aber auch eine schallende Ohrfeige für sie: Erst seit einem halben Jahr ist die Regierung im Amt, die Umfragewerte aber sinken nach anfänglicher Euphorie, unter anderem wegen steigender Inflation und Kriminalität.
Schon vor dem Referendum hatte Chiles Staatschef Boric angekündigt, dass er im Falle eines Scheiterns einen zweiten Entwurf ausarbeiten lassen wolle. Anders gesagt: Das Experiment geht weiter.