Gabriel Boric traf die Sache ziemlich auf den Punkt: "Ich weiß, es war nicht einfach", sagte Chiles junger Präsident am Montag bei einem Festakt in Santiago de Chile, bei dem ihm ein Entwurf für die neue Verfassung übergeben wurde. "Aber so ist das eben, liebe Landsleute: Demokratie ist nicht einfach."
Genau ein Jahr ist vergangen, seit in Chile eine Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit aufgenommen hat. Es war und ist ein riesiges demokratisches Experiment: 154 vom Volk gewählte Abgeordnete sollten eine neue Magna Charta entwerfen. Nach Monaten der zehrenden und zähen Arbeit ist nun ein fast 200 Seiten umfassendes Werk herausgekommen, 388 Artikel, die Chile für immer verändern könnten.
Unter anderem sieht die neue Verfassung vor, dass alle staatlichen Institutionen mit ebenso vielen Frauen wie Männern besetzt sein sollen. Artikel 51 garantiert das Recht auf würdigen und angemessenen Wohnraum, Artikel 61 legt die freie Entfaltung der Sexualität fest und verpflichtet den Staat dazu, die Voraussetzungen zu schaffen für Schwangerschaft und Geburt, ebenso wie für freiwillige Abtreibungen. Wurden in der aktuell gültigen Verfassung Chiles die indigenen Völker des Landes nicht einmal erwähnt, so erklärt der nun vorgelegte Entwurf das Land gleich im ersten Artikel zum plurinationalen Staat, interkulturell und ökologisch.
Zwei Monate haben die Chilenen nun Zeit, sich die neue Verfassung durchzulesen. Am 4. September folgt eine Abstimmung darüber, ob sie in Kraft treten soll - oder auch nicht.
Die aktuelle Verfassung stammt von Pinochet
Denn tatsächlich ist es alles andere als sicher, dass sich eine Mehrheit für den Entwurf entscheiden wird. Chiles aktuelle Verfassung stammt noch aus der Zeit der blutigen Militärdiktatur. Damals, Anfang der 80er Jahre, verpasste General Augusto Pinochet dem Land eine Magna Charta ganz nach seinen Wünschen, mit starkem Präsidenten, mächtigem Militär und radikal marktliberaler Wirtschaftsordnung.
Bildung, Gesundheit, sogar der Zugang zu Wasser: Alles wurde so weit wie irgend möglich in private Hände gegeben. Chile wurde zu einem neoliberalen Wirtschaftswunderland, die Armut sank, der Wohlstand stieg, mit der Zeit wurde aber immer offensichtlicher, dass er nicht alle Schichten der Bevölkerung erreichte.
Während Großgrundbesitzer heute ihre Plantagen mit kostenlosen Wasser aus ihren privaten Brunnen üppig bewässern können, kommt ein paar Hundert Meter weiter bei den Bewohner des nächsten Dorfes kein Tropfen mehr aus der Leitung. Und während in den Nobelvierteln Santiagos die Reichen und Mächtigen in edlen Restaurants speisen, sitzen auf der anderen Seite der Stadt ganze Familien auf der Straße und betteln, weil sie weder Essen noch ein Dach über dem Kopf haben.
2019 gipfelte der Unmut über diese Zustände in gigantischen Massenprotesten. Chiles damaliger Präsident Sebastian Piñera reagierte mit Unverständnis. Der schwerreiche Unternehmer und konservative Politiker schickte erst die Polizei, dann das Militär. Als all das nichts half, ging man zähneknirschend auf die Demonstranten zu und versprach ein Verfassungsreferendum.
Ein Wunschzettel linker Aktivisten?
Im Oktober 2020 sprachen sich dann 78 Prozent der Wähler für eine neue Verfassung aus. Allerdings, und das ist das Problem, lag die Wahlbeteiligung nur bei etwas mehr als 50 Prozent. Als die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung gewählt werden sollten, gingen sogar noch weniger Menschen zur Wahl. Vor allem die konservativen und traditionellen Parteien im Land konnten oder wollten ihre Anhänger nicht mobilisieren. Am Ende wurden deshalb vor allem unabhängige und linke Kandidaten in das Gremium gewählt.
Konservative Kritiker wenden ein, der jetzt vorgelegte Verfassungsentwurf sei kaum mehr als ein Wunschzettel linker und indigener Aktivisten. Er würde, so warnen sie, das Ende des chilenischen Wirtschaftswunders bedeuten, des Rechtsstaats, der Demokratie.
Das ist natürlich übertrieben. Dennoch schwindet die Zustimmung zur neuen Verfassung, ebenso die für den jungen Präsidenten Gabriel Boric. Erst im März hatte er sein Amt angetreten. Die Hoffnungen waren damals riesig, die Herausforderungen aber auch. Im Süden gibt es Unruhen mit radikalen Aktivisten des Volkes der Mapuche, im Norden demonstrieren Einwohner gegen Einwanderer, und zu all dem kommen noch Inflation und Kriminalität.
Boric rief jetzt dazu auf, die Abstimmung über die Verfassung nicht auch zu einer über seine Regierung zu machen: "Es geht hier um die Zukunft Chiles", sagte er. Doch ganz egal, wie die Wahl am Ende ausgehe, gebe es schon jetzt etwas, auf das alle Chilenen stolz sein könnten: "Im Moment der tiefsten Krise haben wir uns für mehr Demokratie entschieden - und nicht für weniger." Aus Sicht des Präsidenten hat sich all die Mühe schon jetzt gelohnt.