Ukraine-Krieg:Hinter ihnen verbrannte Erde

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij bei seinem Besuch in der befreiten Stadt Cherson. (Foto: Ukrainische Präsidenten-Pressestelle/AFP)

Putins Armee ist aus Cherson verschwunden. Nun besucht Präsident Selenskij die befreite Stadt - und spricht von Hunderten Kriegsverbrechen, die russische Soldaten in der Region begangen hätten. Das wahre Ausmaß dürfte erst nach und nach klar werden.

Von Christoph Koopmann, München

Wer Symbolbilder sucht für die vermeintlich unzerstörbare Zuversicht und den Zusammenhalt der Ukrainerinnen und Ukrainer, der muss nur auf die Fotos und Videos schauen, die aus der Stadt Cherson um die Welt gehen. Russlands Armee hat Cherson verlassen, die ukrainische ist wieder da, überall Menschen im Freudentaumel, die Stadt ein Meer aus Flaggen in Blau und Gelb. Dabei fehlen den Menschen nach Angaben der Stadtverwaltung noch immer Strom, Wasser, Heizung, Lebensmittel und Medikamente.

Auch Präsident Wolodimir Selenskij kommt am Montagvormittag zu einem Überraschungsbesuch. Er sagt, er wolle den Bürgern zeigen, dass er für sie da sei. "Damit sie spüren, dass wir nicht nur davon reden, nicht nur versprechen, sondern real zurückkehren, unsere Flagge hissen." Er wolle die Emotionen spüren. "Das motiviert auch mich."

Knapp 80 000 der einst 280 000 Einwohner Chersons sind nach der Eroberung durch russische Truppen Anfang März in der Stadt ganz im Süden der Ukraine geblieben. Was sie und die Menschen in anderen Orten der Gegend am westlichen Ufer des Dnjepr in den Monaten der Besatzung erleiden mussten, dürfte erst nach und nach klarer werden.

Selenskij sagte am Sonntag, bevor er sich auf den Weg nach Cherson machte, schließlich auch Niederschmetterndes. In den befreiten Teilen der gleichnamigen Oblast hätten Ermittler binnen weniger Tage bereits Hinweise auf 400 Kriegsverbrechen gefunden, Leichen sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten entdeckt. Anwohner berichten der Nachrichtenagentur Reuters, dass Mitbürger von russischen Soldaten verschleppt oder getötet worden seien.

Westliche Journalisten dürfen nicht auf eigene Faust in die umkämpften Gebiete

Auch der stellvertretende Innenminister der Ukraine, Jewhenij Jenin, berichtete im Landesfernsehen von "Folterkammern" auf dem Gelände von Polizeistationen. Dies sei "etwas, das wir in befreiten Gebieten immer wieder sehen". Menschen seien "unter absolut unmenschlichen Bedingungen" gefangen gehalten worden. Wo genau sich solche Folterkammern befunden hätten, sagte der Vizeminister nicht.

Bis jetzt sind solche Berichte von Verbrechen an Zivilisten nicht unabhängig überprüfbar. Das liegt auch daran, dass Militär und Verwaltung es Journalisten verboten haben, auf eigene Faust in die Region zu kommen. Es gebe noch vereinzelte Kämpfe mit verbliebenen russischen Soldaten, außerdem sei ein großer Teil des Gebiets vermint. Der Generalstab der ukrainischen Armee schreibt auf Facebook, man habe mehreren westlichen Journalisten die Akkreditierung entzogen, weil sie gegen das Betretungsverbot verstoßen hätten.

Ansonsten können lediglich einige Reporter, die mit Einheiten der Streitkräfte unterwegs sind oder am Montag mit Selenskijs Tross, aus dem befreiten Cherson berichten. Erst im Lauf der Woche soll es Touren für westliche Journalisten geben, laut dem ukrainischen Krisen-Medienzentrum auch an "Orte, an denen die örtliche Bevölkerung gefoltert wurde".

Auch im russischen Staatsfernsehen geht es am Sonntagabend um Cherson, in der wöchentlichen Show "Westi Nedeli" etwa, einer der wichtigsten Propagandasendungen. Da wird behauptet, ein Anschlag ukrainischer Terroristen habe zum Stromausfall in der Stadt geführt. In einem Beitrag wird gezeigt, wie das russische Militär Menschen aus der Region Cherson dabei hilft, sich in Sicherheit zu bringen - während die ukrainische Armee dort angeblich auf zivile Ziele schieße.

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Später geht es um Menschenrechtsverletzungen: angeblich begangen von der Ukraine, entdeckt in den von Russland "befreiten" Gebieten. Die Stadt Sjewjerodonezk in der Ostukraine etwa habe die ukrainische Armee samt ihren Bewohnern "vom Erdboden tilgen" wollen, als sie sich im Sommer von dort zurückziehen musste.

Der Rückzug aus Cherson wird in Russland als schwierige, aber notwendige Entscheidung dargestellt. Laute Kritik am erst kürzlich ernannten Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine, General Sergej Surowikin, gibt es trotz der massiven Niederlage nicht. Im Gegenteil: Von kremlnahen Kommentatoren wird Surowikin dafür gelobt, dass er durch den Rückzug das Leben russischer Soldaten gerettet habe. Für jedes Leiden ukrainischer Zivilisten macht der Kreml seit Kriegsbeginn allein Kiew und dessen Unterstützer verantwortlich.

Doch just am Wochenende tauchte auf dem Telegram-Kanal "Grey Zone", der mit der Söldnergruppe Wagner in Verbindung gebracht wird, ein Video auf. Darin ist ein Mann zu sehen, heißt es im Begleittext, der für Wagner aufseiten Russlands in der Ukraine gekämpft, sich aber dem Feind ergeben habe, sogar zur ukrainischen Armee überlaufen wollte. Die Ukraine habe ihn zurück nach Russland geschickt. Was nun mit ihm passiere, sei die Rache Wagners. Dann wird dem Mann mit einem Vorschlaghammer der Schädel zertrümmert.

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