Masar-i-Sharif:Warum die Bundeswehr in Afghanistan immer wieder von vorn anfängt

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Afghanische Soldaten im Training mit Holzgewehren in Masar-i-Sharif (Foto: AFP)

Nach eineinhalb Jahrzehnten in Afghanistan sieht die Bundeswehr zwar Erfolge bei der Ausbildung der örtlichen Armee. Aber es bleiben eklatante Mängel.

Reportage von Christoph Hickmann, Masar-i-Scharif

Vier Raketen haben sie verschossen und drei Bomben geworfen, Captain A. ist zufrieden. Er steht in Fliegermontur vor seiner Maschine, ein paar Meter weiter parkt das Flugzeug seines Kameraden, mit dem er vor ein paar Minuten aus dem Kampfeinsatz zurückgekehrt ist, Unterstützung für die Truppen am Boden, gegen die Aufständischen. Zwei Gebäude hätten sie zerstört, sagt A., Pilot der afghanischen Luftwaffe, in den Gebäuden seien Taliban-Kommandeure gewesen. Auf seiner Stirn glitzern Schweißtropfen.

Ein Nachmittag Ende Mai, auf das Flugfeld des Camps Marmal in Masar-i-Scharif, nördliches Afghanistan, brennt die Sonne, während Captain A., der sein Alter mit 27 Jahren angibt, aber deutlich älter wirkt, vom Einsatz erzählt. Sein zehnter sei es gewesen, sagt er, im April hätten sie angefangen.

Hinter ihm werkeln die Techniker an der A-29, die wegen ihres Propellerantriebs zunächst an Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert, beim Blick ins Cockpit allerdings ziemlich modern wirkt. "Es macht mich stolz", sagt Captain A. über seinen Dienst in der afghanischen Luftwaffe. Seine Familie sei auch stolz auf ihn. Alle, die er kenne, seien stolz.

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Captain A., in den USA zum Kampfpiloten ausgebildet, ist ein Mann der ersten Stunde. Eine afghanische Luftwaffe gab es bis vor Kurzem nicht, nun sind die ersten Kampfflieger im Einsatz, bis Ende 2018, so der Plan, sollen beispielsweise 31 Piloten für 20 Maschinen vom Typ A-29 ausgebildet sein. Die Botschaft: Es geht voran.

Doch wie schnell geht es voran? Seit eineinhalb Jahrzehnten ist die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz, Ende 2014 war es mit der Mission der internationalen Schutztruppe Isaf vorbei, hierzulande war damals viel vom "Abzug" der Bundeswehr die Rede. Tatsächlich ist sie immer noch dort, wenn auch in deutlich kleinerem Umfang als in den Jahren zuvor.

Bis zu 980 deutsche Soldaten können für die Nachfolgemission "Resolute Support" eingesetzt werden, die Aufgabe lautet "Train, Advice and Assist", also Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte, die nun selbst in der Verantwortung stehen. Doch wie weit sind die Afghanen wirklich? Wie lange wird die Bundeswehr noch bleiben müssen?

Camp Shaheen, zehn Hubschrauberminuten vom Camp Marmal entfernt. Hier liegt eine Pionierschule, in der afghanische Soldaten ausgebildet werden - etwa darin, wie man Sprengfallen unschädlich macht. Besonders wichtig sind handwerkliche Fähigkeiten, weil es zu den größten Schwächen der afghanischen Streitkräfte gehört, ihr Material nicht instand zu halten.

Wie Heeresoffiziere die Lage beurteilen

In einem Gebäude laufen gerade Theoriekurse, in kleinen Räumen sitzen Männer und hören je einem Lehrer zu. Nebenan, in der Schreinerei, steht ein US-amerikanischer Zivilist, der die Ausbildung koordiniert. Frage: Wie lange muss es noch Unterstützung geben? Antwort, sinngemäß: Zöge man sich jetzt zurück, ginge hier in einem Jahr alles den Bach herunter.

Der Amerikaner verdient sein Geld damit, von daher hat er ein Interesse daran, dass es weitergeht mit der Ausbildung. Doch die Einschätzung, dass man hier noch viel Zeit investieren müsse, ist auch in Militärkreisen immer wieder zu hören.

Zum Beispiel in einem Besprechungsraum des Camps Marmal, in den Generalleutnant Jörg Vollmer gebeten hat. Vollmer ist Inspekteur des Heeres, also Chef der größten Teilstreitkraft der Bundeswehr. Ende Mai ist er für ein paar Tage in Afghanistan, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Er kennt das Land und das Camp, zweimal war er Chef des Regionalkommandos Nord, als es die Isaf-Mission noch gab. Nun will er von den Heeresoffizieren hier hören, wie sie die Lage beurteilen. Er hat sich vor dieser Besprechung schon etwas umhören können, gleich zum Auftakt fragt er: "Können Sie mal erklären, warum wir hier immer wieder von vorn anfangen?"

Ein Oberst setzt zu einer längeren Antwort an, zählt auf, woran es fehle. Es gebe, sagt er, "eklatante Mängel in der Grundbefähigung, aber auch in der Einstellung". So fehle es bei den afghanischen Sicherheitskräften an "Vorausplanung", stattdessen werde häufig nur aus der Situation heraus reagiert - also dann, wenn es bereits zu spät sei.

Die Afghanen seien "im Prinzip nicht fähig, fortlaufende Operationen zu führen", sagt er. Man dürfe jetzt nicht nachlassen, sonst sei alles umsonst. Es ist der Satz, den man seit Beginn des Afghanistan-Engagements unzählige Male gehört hat.

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Andere äußern sich abgewogener. Einer sagt, man verlange sehr viel von den Afghanen, die häufig ohne jede Vorkenntnis sehr schnell sehr viel leisten sollten. Der nächste allerdings gibt zu bedenken, man stoße immer wieder an dieselben Grenzen, bestehend aus Korruption, kulturellen Gewohnheiten und einem anderen Verständnis von Führung.

Ein Dritter sagt auf die Frage, wie es um den Materialerhalt stehe, also die Fähigkeit, die eigene Ausrüstung einsatzbereit zu halten: "Wenn man das mit unseren Vorstellungen von Materialerhalt vergleicht, dann hört es schnell auf."

Zusammenfassen lässt sich das so: Bei denjenigen, die erst vor Kurzem hier angekommen sind, überwiegt die Enttäuschung darüber, dass man noch nicht weiter ist. Diejenigen, die bereits länger mit der Ausbildung befasst sind oder es früher schon waren, betonen eher, welche Fortschritte man bereits gemacht habe.

Weckruf Kundus hielt nicht lang vor

Einig sind sich alle darin, dass es noch lange wird weitergehen müssen. Fünf Jahre, zehn Jahre? Keiner will sich da festlegen - schließlich ist das eine politische Entscheidung. Gerade erst haben die Nato-Außenminister beschlossen, dass der Einsatz im nächsten Jahr fortgesetzt wird. Die Details sind allerdings offen - und die sind entscheidend.

So wird es vor allem von der Präsenz der US-Streitkräfte abhängen, ob die Bundeswehr den Stützpunkt im Norden des Landes aufrechterhalten kann. Und die USA haben bereits angekündigt, die Zahl ihrer Soldaten zu reduzieren. Durch den Präsidentschaftswahlkampf könnte die Frage nach dem künftigen Charakter des Einsatzes noch länger offen bleiben.

Dass die Aufständischen im vergangenen Jahr die Stadt Kundus überrennen konnten, wirkte zunächst wie ein Weckruf. Danach geriet Afghanistan angesichts der weltweiten Kriege und Krisen wieder aus dem Blickfeld.

Doch die Lage ist in Teilen des Landes weiter besorgniserregend, die Aufständischen können sich zum Teil frei bewegen. Und 2015 wurde nach Angaben der Unama, der Afghanistan-Unterstützungsmission der Vereinten Nationen, wieder ein neuer Höchststand an zivilen Opfern erreicht, auch wenn die Zahl der Toten leicht sank. Mehr als 3500 Zivilisten wurden demnach getötet, fast 7500 verletzt.

"Das Leben in den Städten geht weiter"

Heeres-Inspekteur Vollmer fasst es so zusammen: "Es dauert in Afghanistan alles länger, als wir uns das vorgestellt hatten. Es gibt hier nach wie vor Erfolge der Taliban, vor allem im Osten und im Süden, und im vergangenen Jahr auch in Kundus."

Trotzdem müsse man "sich stets in Erinnerung rufen, wie es in Afghanistan vor fünf, 10 oder 15 Jahren ausgesehen" habe. "Da hat es große Fortschritte gegeben. Und auch jetzt sehe ich die Situation nicht so düster, wie sie von manchen gezeichnet wird. Das Leben in den Städten geht weiter, und die wichtigsten Verkehrswege sind meistens frei."

Entscheidend sei, dass man weitermache. Es sei "noch jahrelange Arbeit notwendig, bis die afghanischen Sicherheitskräfte ohne unsere Unterstützung auskommen". Bis wann? Das, sagt Vollmer, solle man "nicht an starren Zeitlinien, sondern an der tatsächlichen Entwicklung in Afghanistan festmachen".

© SZ vom 31.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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