Afghanistan:Das vergessene Land

Chaos und Terror quälen Afghanistan seit 40 Jahren. Dabei war die Nation auf dem Sprung in die Moderne: Bilder aus dem Kabul der 60er-Jahre zeigen einen Alltag, der heute unvorstellbar ist. Eine fotografische Zeitreise.

Von Tobias Matern

Etwas fehlt, etwas sehr Wichtiges. Sie erinnert sich an die Schulzeit, an die Arbeit als Hebamme, an die Picknicks im Park mit den Freundinnen und an die Feiern, bei denen Männer und Frauen bis spät in den Morgen zusammen am Tisch saßen, aßen, Liebeslieder sangen.

Aber die Fotos von diesem früheren, von diesem sorgenfreien afghanischen Leben, die hat Del Afroz Afzalzada nicht retten können: Sie musste die wenigen Fotografien zurücklassen, als sie ihre Heimat verließ, wahrscheinlich für immer.

Eine Souterrainzimmer im schwedischen Eskilstuna, eine Stunde entfernt von Stockholm. Ein schwerer geknüpfter Teppich, ausladende Kunstledersofas und Sessel, ein Koranvers ziert die Wand. Del Afroz Afzalzada rückt ihr golddurchwirktes Kopftuch zurecht, ihr Sohn Arif schenkt Kardamon-Tee ein, süß wie Honig und aus einer Kanne, so groß, dass die halbe Nachbarschaft mittrinken könnte.

Die Familie lebt zu neunt in einem Haus. Die mitgebrachten Fotos liegen auf dem Tisch, Frau Afzalzada atmet erst einmal durch und sagt: "Danke dafür, dass Sie mich an diese Zeit erinnern."

Die Zeit, an die sie denkt und die auf den Fotos zu sehen ist, sind die Jahre ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihres Lebens als junge Frau. Ein ganz normales Leben in Afghanistan, heute Land des Krieges und der Taliban, in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren aber Bühne einer goldenen Ära und ein Ort der Hoffnung. Es gab im damaligen Königreich fast alles, was es heute nicht mehr gibt: Sicherheit, Musik, Frauen in Miniröcken, den ernst gemeinten Versuch von Moderne in einem rückständigen Land. Mit einem Leben, das sich im öffentlichen Raum abspielte, weil es nichts zu fürchten gab.

Die Afghanin Del Afroz Afzalzada drückt das so aus: "Ich werde nie das Essen von damals vergessen. Es hat besser geschmeckt als heute, weil es friedliche Zeiten waren und man nicht so viele Sorgen im Bauch hatte."

Phase der Unbeschwertheit

US-Professor William "Bill" Podlich, der 1967 und 1968 im Unesco-Auftrag an der Universität von Kabul lehrte, hat diese Phase, diese Unbeschwertheit perfekt mit seiner Kamera eingefangen. Von ihm sind alle hier gezeigten Fotos.

Podlich, der mit seiner Frau und den beiden Töchtern ins Land gekommen war, hielt gewöhnliche Alltagssituationen fest: In Kabul laufen Studentinnen im kurzen Rock und ohne Kopftuch durch die Straßen, Frauen und Männer sitzen selbstverständlich nebeneinander im Bus. Die Basare sind voll, Diplomatenlimousinen rollen ohne Begleitschutz durch die Straßen, Arbeiter demonstrieren am 1. Mai.

Der 2008 verstorbene Podlich hinterließ Bilder eines Afghanistans, das auf dem Weg war zu einem modernen Staat. Podlichs Tochter Peg sagt Jahrzehnte später, den Niedergang des Landes aus der Ferne zu verfolgen sei schmerzhaft. "Wenn ich mir die Fotos ansehe, erinnere ich mich an Afghanistan als Land mit Tausenden Jahren Kultur und Geschichte." Heute wird der Alltag bestimmt von Gewalt und Intoleranz, von Selbstmordattentätern und Warlords, von einheimischer Korruption und ausländischer Einmischung. Die Regierung in Kabul ist heillos zerstritten.

Seit knapp 40 Jahren herrscht Chaos in Afghanistan. Del Afroz Afzalzada hat alles miterlebt: 1973 den Sturz der Monarchie und die Ausrufung der Republik, später die Machtübernahme der Kommunisten, 1979 den Einmarsch der Roten Armee, der das Kabuler Regime vor dem Bürgerkrieg retten sollte. Doch die USA rüsteten die Gotteskrieger hoch gegen die Sowjets, 1989 zogen die Moskauer Truppen ab, gedemütigt von den Mudschahedin.

Es kam zum Bürgerkrieg, Raketen schlugen in Kabul ein, die Taliban erkämpften sich die Macht. Sie herrschten, bis die Amerikaner nach dem 11. September 2001 kamen, die Taliban stürzten, Osama bin Laden jagten. Doch am Ende scheiterte auch der Westen am Hindukusch. Und nun das Wiedererstarken der Taliban. "Ich glaube nicht, dass jemals wieder Frieden in meinem Land herrschen wird, dass ich jemals zurückkehren kann", sagt Del Afroz ganz nüchtern.

"Mein Kindheit war süß, so süß"

In einem dieser ebenso miteinander verflochtenen wie verworrenen Konflikte hat sie ihren Mann verloren, um ein Haar auch ihren Sohn Arif. Die Taliban wollten Arif töten, weil er für einen britischen Sender gearbeitet hatte, den Feind also. Der Sohn floh nach Schweden, die Islamisten nahmen sich seine Familie vor, bedrohten den Bruder, den Cousin, die Mutter. Nun sind alle Afzalzadas in Eskilstuna: Arifs Frau, seine Kinder, der Brüder und seine Mutter.

Neben Rosinen, Nüssen und Pistazien liegen Podlichs Fotos auf dem Tisch. Bilder, die vor dem zur Landesgeschichte geronnenen Chaos entstanden sind, das auch das Leben der Familie Afzalzada geprägt hat. Del Afroz sucht ein Bild heraus, ein bunt bemalter Lastwagen. Damals, sagt sie, hätten Lkw-Fahrer Rennen veranstaltet mit den Lastwagen, die Weintrauben geladen hatten: "Der Sieger bekam einen Preis. Das waren kleine, aber besonderes Ereignisse." Ein Autorennen, zum Spaß, in Afghanistan? Das ist heute undenkbar.

"Niemand hat einen komisch angesprochen, niemand hat einen bedroht"

Das nächste Bild - der lächelnde Mann in Uniform vor dem Fernbus: "Damals konnte man mit dem Bus von Kabul nach Peschawar in Pakistan mit dem Bus fahren und hätte eine Tasche voller Geld dabeihaben können", sagt die Afghanin. "Alles war sicher. Heute wäre die Reise sehr gefährlich." Heute attackieren die Taliban an den Überlandstraßen Regierungstruppen, ziehen sich dann ins benachbarte Pakistan zurück: Fernbus-Routen als Kampfgebiet.

In den 1950er-Jahren, als Del Afroz Afzalzada in der ostafghanischen Provinz Laghman geboren wurde, gab es keine Kampfgebiete. In ihrem Pass steht, sie werde demnächst 63 Jahre alt. Ob das stimmt, weiß sie nicht - es gab kein Melderegister, und für sie spielt das Alter keine Rolle. Was sie weiß: dass sie als erstes Mädchen ihrer Familie in die neue Distrikt-Schule gehen durfte.

"Meine Kindheit war süß, so süß", sagt sie. Del Afroz Afzalzada möchte das Foto von den Schulmädchen, die lachend durch Kabul laufen, behalten: "So unbeschwert können sie sich heute nicht mehr bewegen." Dann tippt sie auf eines der Mädchen: "Das könnte ich sein."

Nach ihrem Abschluss unterrichtete sie zunächst an einer Dorfschule, später wurde sie Hebamme. Manchmal musste sie Stunden zu einer Entbindung laufen, alleine. "Das war kein Problem. Es hat niemanden gestört, niemand hat einen komisch angesprochen, niemand hat einen bedroht."Das wäre heute undenkbar.

Ende der 70er glitt Afghanistan ab, schossen Untergrundkämpfer auf Politiker und Funktionäre. Del Afroz Afzalzadas Mann kam ums Leben, er hatte in einer Wagenkolonne gesessen, die ins Visier der Aufständischen geriet. Die Witwe zog mit den Kindern nach Kabul, fand Arbeit im Krankenhaus. Die Frau aus der Provinz wollte in der Klinik ihre Haare bedecken, so war sie es gewohnt. In Kabul aber war das unerwünscht, es widersprach dem Zeitgeist.

Dann folgten die Jahre der Kriege, am Ende blieb den Afzalzadas nur eine Option: die Flucht. Nun geht Del Afroz Afzalzada in eine Schule in Eskilstuna - Schwedisch für Anfänger. "Varifrån kommer du?" Woher kommst du, ist einer der ersten Sätze, die sie lernt. Stellt man ihr diese Frage noch einmal, sagt sie: "Aus einem Land, das vor vielen Jahren einmal friedlich war."

(Die Bilder zum Text finden Sie hier, weitere Fotos von Bill Podlich hier.)

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