Europäische Finanzen:Die EU darf Schulden machen - aber nur ausnahmsweise

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Ein Urteil voller Mahnungen: die Verfassungsrichter Peter Huber und Doris König bei der Verkündung. (Foto: Uli Deck/dpa)

Brüssel nimmt Milliardenkredite auf, um die Folgen der Pandemie zu lindern. Das Bundesverfassungsgericht urteilt nun: Dieses Schuldenmachen verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es war ein langes Urteil voller Mahnungen und Bedenken, das am Dienstagvormittag im Karlsruher Sitzungssaal verlesen wurde. Kaum waren die sieben Richterinnen und Richter in der Tür unter dem hölzernen Adler verschwunden, da signalisierte Florian Toncar, dass er die Botschaft verstanden habe. Nein, der EU-Wiederaufbaufonds sei keineswegs eine Blaupause fürs europäische Schuldenmachen, versicherte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Das 750 Milliarden Euro schwere Hilfspaket namens "Next Generation EU" sei allein auf die Bewältigung der Pandemiefolgen ausgerichtet und bleibe eine singuläre Maßnahme, diktierte er in die Mikrofone.

Die Beteuerungen des FDP-Mannes waren einerseits bemerkenswert, denn eigentlich hat die Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht ja einen Sieg davongetragen. Der Wiederaufbaufonds NGEU ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Zweite Senat - als Berichterstatter war Peter Huber zuständig - hat die Verfassungsbeschwerden des Unternehmers Heinrich Weiss und des Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke abgewiesen. Andererseits ist das 140-Seiten-Urteil von europarechtlichen Zweifeln an der Zulässigkeit einer europäischen Kreditaufnahme durchwirkt. Und sogar mit einer Gegenstimme versehen: Verfassungsrichter Peter Müller wollte das vor zwei Jahren aufgelegte Hilfspaket für grundgesetzwidrig erklären.

Kreditaufnahme im großen Stil - nichts für den Normalfall

Beides, die Zweifel wie auch Müllers abweichende Meinung, dienten vermutlich demselben Zweck. Sie sollten politisch Verantwortlichen wie Toncar deutlich machen, dass eine Kreditaufnahme im großen Stil, wie die die EU nun erstmals vorgenommen hat, allenfalls dann in Ordnung ist, wenn sie auf diesen einen historischen Ausnahmefall beschränkt bleibt. Denn Schuldenmachen ist in den EU-Verträgen nicht vorgesehen, jedenfalls nicht für den Normalfall. Die Union finanziert sich durch Beiträge ihrer Mitglieder.

Eine Aufnahme von Krediten komme daher nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die "Mittel ausschließlich zweckgebunden für eine der Europäischen Union zugewiesene Einzelermächtigung eingesetzt werden, die Kreditaufnahme zeitlich befristet und der Höhe nach begrenzt ist und die Summe der Kredite den Umfang der Eigenmittel nicht übersteigt", erläuterte Vizepräsidentin Doris König bei der Urteilsverkündung.

Bei der Zweckgebundenheit setzte der Senat zwar ein Fragezeichen, weil gut ein Drittel der Gelder in den Klimaschutz fließen sollen - was eher nicht mit der Pandemie in Verbindung gebracht werden könne. Zudem entdeckte das Gericht ein Quäntchen Staatsfinanzierung, weil Länder mit hohen Schuldenquoten mit günstigen Krediten versorgt würden. Beides war aber jedenfalls keine "offensichtliche" Überschreitung der europäischen Zuständigkeiten, befand der Senat.

Einer der Richter spricht ein einsames Nein

Und übrigens auch keine Gefahr für die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags. Wenn alles schief liefe und Deutschland über Nachschusspflichten für die Verbindlichkeiten gerade stehen müsse, dann belastete dies den Bundeshaushalt mit 21 bis 28 Milliarden Euro pro Jahr, hat das Gericht ausgerechnet. Viel Geld, aber machbar: Das Budgetrecht des Parlaments würde nicht leerlaufen, heißt es in dem Urteil.

Allerdings schickte das Gericht gleich hinterher, wo die Grenze dann doch überschritten wäre. "Offensichtlich unzulässig dürfte die Aufnahme von Krediten durch die Europäische Union am Kapitalmarkt hingegen jedenfalls dann sein, wenn sie allgemein zur Haushaltsfinanzierung erfolgt." Wenn die EU also das anfange, was in ihren Mitgliedstaaten längst üblich ist - der ständige Griff zur Schuldendroge -, dann wäre das aus Karlsruher Sicht nicht mehr das Europa, das Deutschland demokratisch legitimiert hat.

Genau diese Sorge war es, die Peter Müller zu seinem einsamen Nein veranlasst hat. Vermutlich ist es seine politische Vergangenheit als langjähriger Ministerpräsident des Saarlands, die ihn misstrauisch macht gegenüber all den politischen Einmal-ist-keinmal-Beteuerungen. "Next Generation EU" sei lediglich ein "einmaliges Instrument zur Reaktion auf eine präzedenzlose Krise"? Sie sei nicht als "Einstieg in eine Transferunion" gedacht? Dass die Senatsmehrheit diesen Aussagen Glauben schenkt, hält Müller für "nicht belastbar".

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Genau besehen, ist es also gar nicht so sehr der Wiederaufbaufonds als solcher, der Müllers Kritik provoziert. Dem Richter, der auf der Zielgeraden seiner Karlsruher Laufbahn angekommen ist, geht es nicht um dieses Mal, sondern um nächstes Mal. Das Bundesverfassungsgericht nehme mit seiner Billigung von NGEU in Kauf, "dass sich der Eigenmittelbeschluss 2020 als Einstieg in eine grundsätzliche Änderung der Finanzarchitektur der Europäischen Union im Sinne einer Fiskal- und Transferunion" darstelle - und dies ohne Änderung der Verträge.

Was ihn noch mehr wurmt: dass sich das Gericht von seiner Rolle als Kontrolleur in Europa verabschiede. Die Karlsruher "Ultra-Vires-Kontrolle", die sicherstellen soll, dass die EU sich innerhalb der ihr zugestandenen Kompetenzen bewege - sie sei nun an strengste Voraussetzungen gebunden und werde daher künftig im Wesentlichen leerlaufen, prognostiziert Müller.

Ob die düstere Vorhersage des Richters eine gute oder eine schlechte Nachricht ist, daran freilich scheiden sich die Geister. Nach der dramatischen Auseinandersetzung um das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank - Karlsruhe hatte EZB wie EuGH eine Kompetenzüberschreitung vorgeworfen - war "Ultra Vires" eher als europäisches Schreckgespenst wahrgenommen worden.

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