Bundestagswahl:Eine Ursache für den Erfolg der AfD: Mangel an Respekt

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Die AfD fand vor allem in Ostdeutschland Unterstützung - wie hier in Hoyerswerda. (Foto: AP)

Auch in Deutschland gibt es ein wirtschaftliches Gefälle, doch es spielt eine viel kleinere Rolle als bei der Wahl von Trump oder dem Brexit. Entscheidend sind andere, weniger messbare Dimensionen von Ungleichheit.

Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

All jenen Experten, die uns weismachen wollten, die globale Welle des Populismus sei schon am Abebben, wurden in Deutschland eines Besseren belehrt. In einem der reichsten Länder der Welt, einem Land, in dem rechter Nationalismus mit dem strengstmöglichen Tabu (Adolf Hitler) belegt ist und das sich uneingeschränkt zur europäischen Integration bekennt, in so einem Land stimmte jeder achte Wähler für eine fremdenfeindliche, Euro-skeptische, rechtspopulistische Partei. Eine Lehre sollten wir aus dem Erfolg der AfD ziehen: Wollen wir gegen den Populismus vorgehen, müssen wir verstehen, dass seine Antriebskräfte ebenso sehr kultureller wie wirtschaftlicher Art sind.

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Natürlich gibt es auch in Deutschland eine wirtschaftliche Komponente. Nicht jeder Deutsche fährt BMW und denkt über seinen Zweiturlaub auf Mallorca nach. Doch ist das ökonomische Motiv bei Weitem nicht so relevant wie bei der Wahl Donald Trumps oder dem Brexit. In einer Umfrage nannten 95 Prozent der AfD-Wähler Bedrohungen "der deutschen Sprache und Kultur" als Grund für ihre Entscheidung.

In vielen Ländern gibt es geografische Trennlinien

In vielen Teilen Ostdeutschlands findet fremdenfeindlicher Rechtspopulismus deutlichen Zuspruch. Hier herrscht nahezu perfekte Symmetrie: Im Osten, wo die meisten Stimmen an die AfD gingen, gibt es die wenigsten Immigranten. Das ostdeutsche Phänomen hat viel mit den 40 Jahren hinter dem Eisernen Vorhang zu tun, einer Art Posttraumatischen Belastungsstörung, und auch damit, wie die ungleichen Hälften Deutschlands seit der Wiedervereinigung interagierten.

Geografische Trennlinien sind aber auch anderswo für Rechtspopulismus charakteristisch: das Trump-treue Innere der USA gegen die liberaleren Küsten, Pro-Brexit-England (ohne die Hauptstadt) gegen das kosmopolitische London und das pro-europäische Schottland; die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis) im ländlichen Ost- und Südostpolen gegen die liberalen Großstädte, den Westen und den Nordwesten. Bei allen Unterschieden findet man in den populistisch wählenden Regionen ein gemeinsames Ressentiment: "Uns gibt's auch - ihr habt uns aber ignoriert und als Landesteile zweiter Klasse behandelt."

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Wir konzentrieren uns dabei zu sehr auf die rein wirtschaftliche Seite der Ungleichheit. Diese spielt vor allem in Amerika und Großbritannien eine große Rolle, wo Globalisierung in ihrer neoliberalen, finanzkapitalistischen Form dazu führte, dass eine dünne Oberschicht überproportionalen Reichtum genießt, während für die untere Hälfte der Gesellschaft die Haushaltseinkommen stagnieren oder sinken. Wachsende wirtschaftliche Ungleichheit bedeutet auch wachsende Ungleichheit der Chancen in der Zukunft. Weder in Polen noch in Deutschland ist dies jedoch das charakteristische Krankheitsbild des Populismus.

Ich glaube, wir müssen subtilere, nicht ohne Weiteres messbare Dimensionen der Ungleichheit mehr beachten. Ich nenne sie "Ungleichheit der Aufmerksamkeit" und "Ungleichheit des Respekts". Wie Tim Wu in "The Attention Merchants" betont, ist Aufmerksamkeit eine der wichtigsten Währungen im Zeitalter des Internets. Nun, wie viel Aufmerksamkeit widmeten die liberalen Medien bis vor Kurzem den "abgehängten" Regionen und sozialen Gruppen? Wie viele informierte und mitfühlende Reportagen wurden über den Rust Belt in der New York Times oder über postindustrielle Teile Englands im Guardian veröffentlicht? Und zwar ehe die populistische Schockwelle Tausende Großstadtreporter auf ihre kühnen Safaris ins dunkelste Michigan oder ins County Durham katapultierte.

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In Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" schreit Linda, die Frau des überforderten Willy Loman: "Er ist ein Mensch, und es passiert ihm gerade etwas Schreckliches! Also gebührt ihm Aufmerksamkeit. Er darf nicht ins Grab fallen, wie ein alter Hund. Aufmerksamkeit! Aufmerksamkeit schulden wir dem Menschen."

Ungleichheit der Aufmerksamkeit geht in Ungleichheit des Respekts über. Der Ausdruck "Umverteilung des Ansehens" wurde bei der polnischen Rechten fast schon sprichwörtlich. Er ist auf den ersten Blick vielleicht seltsam, aber er erfasst tatsächlich etwas Wichtiges. Umverteilung hat nicht nur mit Geld zu tun, sondern auch mit Respekt.

Unsere Gesellschaften haben eines der zentralen Versprechen des Liberalismus nicht eingelöst - das Versprechen, das der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin als "gleicher Respekt und gleiche Sorge" für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft zusammenfasste. Am Ende von Alexander Paynes schönem Film "Nebraska" kauft der Sohn eines verbitterten, erschöpften alten weißen Arbeiters seinem Vater einen neuen Pick-up. Der alte Mann fährt langsam durch die Straßen der Kleinstadt, wo er aufgewachsen ist, und genießt - nur dieses eine Mal - die bewundernden Blicke seiner alten Freunde. Er genießt die Aufmerksamkeit. Den Respekt.

Typische Aussage: "Ich erkenne mein Land nicht mehr"

Dies geht über in die kulturelle Dimension - die in Deutschland, aber nicht nur hier, so wichtig ist. "Ich erkenne mein Land nicht mehr" ist die typische Aussage eines rechtspopulistischen Wählers. " On est chez nous" (Wir sind bei uns) war der Ruf jener, die Marine Le Pen und ihre Partei Front National unterstützten. Einwanderung ist hier offensichtlich der Schlüssel, vor allem in Bezug auf die (reale oder imaginäre) Bedrohung durch den Islam. Kürzlich gaben in einer polnischen Umfrage 42 Prozent der Befragten an, islamistischer Terrorismus sei eine große Gefahr für Polens nationale Sicherheit - und das, obwohl es im Land so gut wie keine Muslime gibt.

Es ist aber nicht nur Einwanderung. Es geht auch um Themen wie Abtreibung, um Homo-Ehe und um das, was als "politische Korrektheit" denunziert wird, und so viel bedeutet wie: "Es gibt so viele Dinge, die man früher so sagte, und auf einmal nicht sagen darf". Und dann kommen die schimpfenden Trumps, Le Pens oder AfD-Leute daher, und der Wähler ruft: "Endlich sagt das einer!" Alle anderen ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen scheinen Identitätspolitik betreiben zu dürfen - nur die, "echten" Engländer, Amerikaner, Polen oder Deutsche nicht. Sie fühlen sich angegriffen und ignoriert. Populismus ist ihre Identitätspolitik.

Das ist natürlich nicht die ganze Geschichte. In Europa ist auch EU-, und vor allem Euro-Feindlichkeit, eine große Triebkraft für den Populismus. Die AfD begann als eine Anti-Euro-Partei. Doch die soziale und kulturelle Dimension wird von den meisten populistischen Strömungen geteilt, sei es in Europa oder außerhalb. Also sollten wir Linda Loman folgen und aufmerksam sein. Mit einer falschen Diagnose finden wir nie die richtige Medizin.

Timothy Garton Ash, 62, ist Professor für europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow der Hoover Institution an der Universität Stanford. Er ist Träger des Aachener Karlspreises 2017.

Aus dem Englischen von Alexandra Berlina.

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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