Bundestag:Wachstumsbremse dringend gesucht

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598 Abgeordnete sollen eigentlich im Bundestag sitzen, tatsächlich sind es derzeit 709 - nach der nächsten Wahl könnten es bis zu 837 sein. Das zeigen Berechnungen von Mannheimer Forschern. Was tun? Die Parteien haben mehrere Vorschläge gemacht - doch jeder hat einen Haken

Von Christian Endt, Eva König und Benedict Witzenberger, München

Viel Zeit bleibt nicht mehr: Bevor spätestens im Herbst kommenden Jahres die nächste Bundestagswahl ansteht, müssen sich die Parteien auf eine Reform des Wahlrechts einigen. Sonst droht ein riesiges Parlament. Das deutsche Bundestagswahlrecht hat eigentlich einen guten Ruf: Es kombiniert die Persönlichkeitswahl, die etwa in den USA und in Großbritannien praktiziert wird, mit der Verhältniswahl, vereint also direkt gewählte Abgeordnete aus den Wahlkreisen mit einer möglichst gerechten Verteilung der gewählten Parteien.

Doch genau diese Verbindung zweier Systeme verursacht in einer zunehmend zersplitterten Parteienlandschaft Probleme: Was, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach Zweitstimmen zustehen? Überhangmandate sollten das Problem lösen, schufen aber neue Ungerechtigkeiten, wie das Verfassungsgericht 2008 und 2012 monierte. Der Bundestag erfand daraufhin die Ausgleichsmandate - mit der Folge, dass sich die Zahl der Sitze weiter erhöhte. Heute sitzen im Parlament 709 Abgeordnete, die Verfassung sieht eigentlich 598 vor.

Und es könnten noch mehr werden. Forscher warnen seit Jahren davor, dass auch 800 oder mehr Abgeordnete mathematisch möglich sind. Die Politikwissenschaftler Thomas Gschwend und Marcel Neunhoeffer von der Universität Mannheim haben für die Süddeutsche Zeitung auf Basis aktueller Umfragen simuliert, wie groß das nächste Parlament werden könnte. Da Umfragen irren können, haben die Wissenschaftler mehrere Tausend Varianten mit leicht unterschiedlichen Ausgangswerten durchgerechnet. In neun von zehn Fällen ergab sich eine Abgeordnetenzahl über der jetzigen von 709. In mehr als der Hälfte der Fälle läge die Zahl der Mandate bei 733 oder darüber. Im Extremfall könnten es 837 Abgeordnete werden.

Sowohl der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert als auch Amtsinhaber Wolfgang Schäuble drängen die Parteien daher zu einer Änderung des Wahlrechts. Das Parlament soll kleiner werden. Schäuble fordert eine Einigung bis Ende Januar. FDP, Grüne und Linke wollen die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 reduzieren und die Gesamtzahl der Abgeordneten auf 630 erhöhen.

Dadurch verschöbe sich das Verhältnis von Direktmandaten und Listenmandaten von Halbe-Halbe auf etwa 40 zu 60. Entstehende Überhangmandate sollen zudem anders als bisher länderübergreifend mit Listenmandaten ausgeglichen werden. Wenn die CDU etwa in Sachsen viele Überhangmandate erzielt, könnte dies mit weniger Listenmandaten in Nordrhein-Westfalen ausgeglichen werden, wo die Partei nicht so stark ist. Allerdings sind in diesem System Überhangmandate nicht komplett ausgeschlossen.

Welche Auswirkungen dieser Vorschlag hätte, hängt vor allem vom Zuschnitt der Wahlkreise ab. Die Berechnungen der Mannheimer Wissenschaftler deuten darauf hin, dass über die regulären 630 Sitze hinaus keine Überhang- und Ausgleichsmandate nötig wären. Je nach Gestaltung der Wahlkreisgrenzen und je nach Wahlergebnis, insbesondere der CSU, ist ein größeres Parlament aber nicht ausgeschlossen. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein Gutachten des Bundeswahlleiters.

Mehrere CDU-Politiker haben in einem Brief an Fraktionschef Ralph Brinkhaus vorgeschlagen, den Ausgleich zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis schlicht abzuschaffen. Wie bisher sollen 299 Direktmandate vergeben werden, die übrigen 299 Sitze über die Zweitstimme. Das Verrechnen beider Stimmen entfiele. Dieses Szenario würde vor allem CDU und CSU nutzen, die in der Regel die Mehrzahl der Direktmandate gewinnen.

Würde nach diesem System am kommenden Sonntag gewählt, könnte die Union im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 ungefähr 35 Sitze dazugewinnen - obwohl der Bundestag um 111 Sitze schrumpfen würde und die Union in Umfragen schlechter dasteht als damals. Alle anderen Parteien würden Sitze verlieren - mit Ausnahme der Grünen, die erstmals eine größere Zahl an Direktmandaten erringen könnten. Viele Länder wenden ein solches System an, darunter Italien, Russland und Mexiko.

Auch die AfD hat einen Vorschlag, wie der Bundestag kleiner werden soll. Demnach soll eine Partei je Bundesland nur so viele Mandate bekommen, wie ihr nach den Zweitstimmen zustehen. Diese harte Kappungsgrenze würde Ausgleichs- und Überhangmandate verhindern - aber wahrscheinlich dazu führen, dass manchen direkt gewählten Abgeordneten ihr Mandat verwehrt bliebe.

© SZ vom 18.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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