Bund-Länder-Absprachen:Merkel überlässt den Ländern das Feld

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Der Druck aus den Ländern war schon seit Tagen immer stärker geworden, die Corona-Regeln zu lockern. Eine härtere Linie hätte die Kanzlerin kaum noch durchsetzen können.

Von Jens Schneider, Berlin

Die Kanzlerin überlässt den Ländern das Feld, das sie sich längst genommen haben - zumindest weitgehend. Das könnte die Botschaft des heutigen Tages nach den Beratungen über weitere Lockerungen angesichts der Corona-Pandemie sein. Der Druck aus den Ländern war schon seit Tagen immer stärker geworden, einige preschten vor, setzten eigene Regelungen um - etwa zur Öffnung von Schulen oder Geschäften. Nun gibt Angela Merkel einen großen Teil der Verantwortung für die Linie im Kampf gegen die Corona-Infektionen in deren Hände. Eine härtere Linie hätte sie, wenn sie denn gewollt hätte, kaum noch durchsetzen können. Nach dem Durcheinander der vergangenen Tage geht es erst einmal um die Vermeidung eines Flickenteppichs. Damit könnte dieser Mittwoch bundesweit der Tag der großen Lockerungen in der Corona-Pandemie in Deutschland werden - bis auf Weiteres, und mit einer Rückfallklausel für den Fall, dass die Zahl der Infektionen wieder stark ansteigt. Auch die soll in der Verantwortung der Länder liegen.

Am Vormittag wollen die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder beraten, und laut der Beschlussvorlage planen sie heute einen "erheblichen weiteren Öffnungsschritt". Die Schulen sollen schrittweise für alle Schüler geöffnet werden, auch alle Geschäfte, unter Auflagen. Die Regierungschefs stellen fest, dass derzeit die Infektionsdynamik in Deutschland deutlich reduziert sei. Und, ein wichtiger Punkt, auch nach den ersten Öffnungsmaßnahmen seit dem 20. April sei die Zahl der Neuinfektionen niedrig geblieben. Nach heutigem Stand sei damit keine erneut einsetzende Infektionsdynamik erkennbar.

Doch sicher ist das nicht, und so stehen alle Öffnungen logischerweise unter dem Vorbehalt einer Rückfallklausel, die aber regional ansetzen soll: Sollte es in einzelnen Regionen wieder zu einem hohen Anstieg von Neuinfektionszahlen kommen, wollen die Länder laut dem Papier sicherstellen, dass auf diese Dynamik "sofort vor Ort mit Beschränkungen reagiert" wird. Konkret heißt das, dass sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept umgesetzt werden soll, wenn in Landkreisen oder kreisfreien Städten mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern innerhalb der zurückliegenden sieben Tage auftreten.

Generell sollen die Länder in eigener Verantwortung vor dem Hintergrund landesspezifischer Besonderheiten und des jeweiligen Infektionsgeschehens ihr eigenes Vorgehen bestimmen. Die Ministerpräsidenten nehmen damit zur Kenntnis, dass die Situation in den Ländern sehr unterschiedlich ist, aber eben auch die Regierungen sehr unterschiedliche Einschätzungen haben.

Ministerpräsidenten und Kanzlerin hoffen dem Eindruck der Uneinigkeit entgegenwirken zu können

Mit dieser Linie hoffen die Länderchefs und die Kanzlerin, dem heiklen Eindruck der großen Uneinigkeit aus den vergangenen Tagen entgegenzuwirken, ohne dass sie sich jetzt in allem einig wären. Passend dazu sprach sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwochmorgen in einer Fernsehsendung bereits für bundesweit einheitliche Kriterien und gemeinsame Grundsätze aus. "Ein zusammenhangloser Flickenteppich schafft Verwirrung", sagte er dem ZDF-"Morgenmagazin".

Es gehe darum, insbesondere die Bildungschancen von jungen Menschen zu wahren, heißt es in der Beschlussvorlage. Auch solle der wirtschaftliche Schaden, den das Eindämmen des Virus verursacht, weiter begrenzt werden.

An erster Stelle der Beschlussvorlage der Regierungsspitzen stehen die Schulen. Bis zu den Sommerferien sollen alle Schülerinnen und Schüler im Prinzip wieder Präsenzunterricht erhalten. Über das Tempo aber entscheiden die Länder, die ohnehin längst unterschiedlich weit gegangen sind. Wo es in einigen bereits wieder Unterricht für einzelne Altersgruppen gibt, sind andere vorsichtiger.

Auch die Möglichkeiten der Kinderbetreuung soll durch eine "erweiterte Notbetreuung" in allen Ländern so ausgeweitet werden, dass deutlich mehr Kinder in Kitas betreut werden können. Wieder regeln die Länder die Einzelheiten, längst unterscheiden sie sich auch hier in ihren Regelungen.

Geschäfte sollen wieder öffnen, Breitensport draußen soll wieder stattfinden dürfen

Bundesweit sollen alle Geschäfte unter Auflagen zur Hygiene, aber auch mit Regeln zur Steuerung des Zutritts wieder öffnen. Der Breitensport unter freiem Himmel soll ebenso wie der Profifußball in der ersten und zweiten Liga unter Auflagen wieder erlaubt werden.

Erstmals werden in dem Papier auch wieder Theater, Fitnessclubs, Freizeitparks und Messen als Bereiche genannt, in denen Lockerungen geprüft werden. Auch hier sollen die Länder eigenständig entscheiden können, wann sie unter strengen Hygieneauflagen Öffnungen erlauben. Dies gilt auch für Gastronomie und touristische Betriebe. Mehrere Bundesländer wie Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind bei der Öffnung von Restaurants und des Tourismus in den vergangenen Tagen bereits vorgeprescht.

Damit überlässt die Bundesregierung den Ländern weitgehend die Entscheidung, auch bei diesen Lockerungen im Kulturbereich, Tourismus oder Messen voranzugehen. Dort sind sie ohnehin zuständig, aber habe eben auch sehr unterschiedliche Vorstellungen.

Eine scharfe gemeinsame Linie steht noch, Großveranstaltungen sollen bis Ende August untersagt bleiben - das gilt für Volksfeste, größere Sportveranstaltungen mit Zuschauern, größere Konzerte, aber auch Dorf-, Stadt-, Straßen-, Wein-, Schützenfeste oder Kirmes-Veranstaltungen. So viel Einigkeit gibt es noch. Im Laufe des Abends dürfte sich zeigen, wie weit die Länderchefs mit ihrer Politik auseinander liegen, wenn sie ihre Lockerungspläne verkünden.

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