Fakt ist, dass nahe der syrischen Stadt Aleppo am vergangenen Dienstag mindestens 25 Menschen ums Leben kamen. Das ist in dem Land, in dem seit nunmehr zwei Jahren die Streitkräfte von Präsident Baschar al-Assad und oppositionelle Rebellen gegeneinander kämpfen, keine große Überraschung. Neu ist aber, dass Regierung und Aufständische sich gegenseitig eines tödlichen Einsatzes chemischer Kampfstoffe bezichtigten.
Den Anfang machte die Regierung: Aus Assads Informationsministerium hieß es, die syrischen Streitkräfte würden niemals international verbotene Waffen einsetzen. Vielmehr hätten Aufständische eine mit chemischen Kampfstoffen bestückte Rakete auf die Stadt Chan al-Assal geschossen. Prompt folgte die Schuldzuweisung der Rebellen an regierungstreue Streitkräfte: "Wir glauben, dass sie eine Scud(-Rakete) mit chemischen Stoffen abgefeuert haben", sagte ein einflussreicher Aufständischer.
Ob es wirklich zu einem Einsatz von Chemiewaffen gekommen ist, lässt sich kaum nachvollziehen - Jay Carney, Sprecher im Weißen Haus, sagte, man habe keine Beweise und werde den Vorwürfen nachgehen. Viel interessanter ist die Tatsache, dass es in der gegenwärtigen Situation für beide Kriegsparteien von großem taktischen Vorteil sein kann, dem Gegner solch einen Angriff zur Last zu legen, sei er passiert oder nicht.
Briten und Franzosen wollen Waffen liefern
Assad weiß, dass sich in der internationalen Gemeinschaft die Stimmen mehren, die die syrischen Rebellen mit Waffen beliefern wollen. An der Spitze der Befürworter eines solchen Einsatzes stehen Frankreich und Großbritannien, aber auch der Druck auf US-Präsident Barack Obama wächst. Assad weiß auch, dass die Chancen auf eine Unterstützung der Rebellen schwinden, sollte er die Weltöffentlichkeit glauben machen, die Aufständischen hätten chemische Kampfstoffe eingesetzt, seien rücksichtslose Schlächter ohne jegliches Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts.
Umgekehrt setzen die Rebellen alles daran, die Schuld dem syrischen Regime zuzuschieben, hatte Obama doch gesagt, dass ein Einsatz von Chemiewaffen seitens der Regierung eine "rote Linie" überschreiten würde. Die britische Regierung erklärte kurz nach Bekanntwerden des Angriffs, der "Einsatz oder die Verbreitung von Chemiewaffen würde eine entschlossene Reaktion der Staatengemeinschaft erfordern".
Für beide Seiten gäbe es also ausreichend Motive, Propaganda zu verbreiten. Assad will keine Einmischung von Außen, die Rebellen wollen Waffen und die prinzipielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Doch wer sagt die Wahrheit?
Dass sich Assads Regime im Besitz einer großen Menge von Kampfstoffen wie Sarin, Senfgas und VX befindet, ist weitgehend unumstritten. Auffällig ist auf der anderen Seite, wie harmlos sich die Streitkräfte der Rebellen derzeit nach außen darstellen: Ein Aktivist der Opposition zum Beispiel kommentiert den mutmaßlichen Giftgas-Einsatz der Washington Post zufolge: "Das war eine Boden-Boden-Rakete, die die Opposition nicht hat." Sie besitze außerdem nicht einmal Giftgas. Ein Kommandeur der Rebellen in Aleppo, Abdul Jabbar al-Okaidi, machte sich nach einem Bericht der New York Times sogar lustig über die Vorwürfe der syrischen Regierung: "Wir haben momentan nicht einmal Munition für unsere Kalaschnikows", sagte er.
Dabei hatte die Opposition auch schon andere Töne hören lassen. In einem im Dezember verbreiteten Video demonstrierten aufständische Kämpfer, mutmaßlich handelt es sich dabei um Islamisten, dass sie möglicherweise über ein chemisches Waffenpotential verfügen. In dem knapp achtminütigen Film ist zu sehen, wie zwei in einen Glaskasten gesperrte Hasen qualvoll an einem eingeleiteten Gas sterben.
Viele tote Regierungssoldaten
Etwa zur gleichen Zeit beschuldigte die syrische Regierung der New York Times zufolge die Rebellen, Bestände von Chlorgas geplündert zu haben - Augenzeugen in Aleppo berichteten von Chlorgeruch. Westliche Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass die Aufständischen zumindest Grundstoffe zur Herstellung einfacher chemischer Waffen in ihren Besitz gebracht haben. Ein Sprecher Obamas sagte hingegen, dem Weißen Haus lägen keine Informationen vor, dass oppositionelle Gruppen über Chemiewaffen-Potential verfügten.
Die Situation in Syrien bleibt auch undurchsichtig, weil unabhängige journalistische Berichterstattung vor Ort schwierig ist. Der Aufstand gegen Assad wird mehr als je zuvor auch zu einem Propaganda-Krieg. Regierungsgegner stellten der New York Times zufolge die Vermutung auf, dass das Regime den Angriff nahe Aleppo der Opposition in die Schuhe schiebe, um einen eigenen Fehler zu kaschieren. Die Rakete schlug demnach aus Versehen in einem Gebiet ein, das derzeit von Assads Truppen kontrolliert wird. Viele der Toten sollen auf Seiten des Präsidenten gekämpft haben.
Mitarbeit: Frederik Obermaier; mit Material von Reuters.