Denn auch nach einer Änderung des Brexit-Kurses wäre es zunächst nötig, dass das Unterhaus dem Abkommen zustimmt. Nur dann beginnt nach dem Austritt eine Übergangsphase, in der sich fast nichts ändert. In dieser wichtigen Phase, die bis Ende 2020 oder 2022 andauern soll, wollen London und Brüssel einen Handelsvertrag abschließen, der die Beziehungen langfristig regelt. Erst bei diesen Gesprächen wird festgelegt, ob das Königreich und die EU eine Zollunion eingehen, ob Großbritannien teilweise Mitglied des Binnenmarktes bleibt, ob das Land in Zukunft wirklich Einwanderung aus der EU begrenzen darf. Es mag nach dem Gezerre der vergangenen Monate überraschend erscheinen, aber die eigentlich interessanten Verhandlungen haben noch gar nicht begonnen. Das Gewürge um den Austrittsvertrag ist bloß die Ouvertüre.
Will May Labour bei der Zollunion entgegenkommen, muss der Austrittsvertrag daher nicht geändert werden. Schließlich beschäftigt sich dieses 585 Seiten umfassende Dokument gar nicht mit solchen Themen. Die Frage ist jedoch, ob May das will - und ob ihre Fraktion und ihr Kabinett das erlauben. Im Dezember überstand May einen Misstrauensantrag in der Fraktion, und gemäß den Parteistatuten darf ein neuer Antrag erst zwölf Monate später gestellt werden. Würden aber nach einem Kurswechsel viele Minister mit Rücktritt drohen oder viele Fraktionsmitglieder mit ihrem Austritt, würde dies May keine andere Wahl lassen, als Good-bye zu sagen.
Eine Alternative wäre, dass May nicht auf Labour zugeht, sondern stattdessen versucht, mit einem großen Opfer die widerspenstigen Brexit-Rechtgläubigen bei den Konservativen zu besänftigen. Sie könnte versprechen, ganz schnell zurückzutreten, wenn die Quälgeister nur endlich den Vertrag billigen. Das Kalkül: Die Fans eines harten Austritts müssten zwar den verhassten Backstop durchwinken, könnten allerdings sicher sein, dass die wirklich wichtigen Gespräche mit der EU - die über die künftigen Beziehungen - nicht von May geführt werden, sondern von einem der ihren.
Sicher ist nur die Unsicherheit
Eine weitere Möglichkeit wären Neuwahlen. Dazu könnte es ganz schnell kommen, wenn May ihre Fraktion und den kleinen Partner DUP, eine nordirische Regionalpartei, nicht mehr hinter sich hat. Die Parteien könnten den Bürgern dann unterschiedliche Brexit-Strategien anbieten. Bei den Wahlen 2017 versprachen sowohl die Konservativen als auch Labour, das Land aus der EU zu führen. Was Labour bei Neuwahlen versprechen würde, ist schwer vorherzusagen, denn die Partei ist bei dem Thema genauso gespalten wie die Konservativen. Das fällt in der Opposition nur weniger auf. Meinungsforscher sehen die Tories stabil vor Labour, denn der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn gilt vielen Briten als zu radikal und zu wenig staatsmännisch.
Zuletzt verkündete Corbyn, dass Labour den Ruf nach einem neuen Referendum unterstützen könnte - aber nur dann, wenn der seiner Ansicht nach schädliche Brexit-Kurs von May anders nicht zu stoppen sei. Corbyn zieht also Neuwahlen vor, und er würde die Premierministerin sogar unterstützen, wenn sie Labour weit genug entgegenkommt. Bislang ist im Parlament keine Mehrheit für eine neue Volksabstimmung abzusehen. Gäbe es ein Referendum, würde es Umfragen zufolge wieder ganz knapp ausgehen.
Sicher ist nur die Unsicherheit. Und die wird andauern.