Großbritannien in der Brexit-Krise:Zeit der Zyniker

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Vier "Teller" verkünden das Ergebnis einer weiteren Brexit-Abstimmung - eines der eigentümlichen Rituale des Unterhauses. Der britische Parlamentarismus hat schon ein paar hundert Jahre überlebt - was dann doch Hoffnung für die Zukunft geben kann. (Foto: AP)

Der britischen Politik droht ein Totalversagen. Schuld sind Politiker, denen Vernunft und Kompromiss­bereitschaft fehlen. Warum die Bürger das Spektakel trotzdem noch ertragen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Umgäbe die britische Demokratie nicht die Aura der Unverwüstbarkeit, man müsste 330 Jahre nach der Glorious Revolution mit ihrer Zerstörung rechnen. Weniger gefestigten Systemen hätte nach dem Spektakel der vergangenen Tage jedenfalls das Sterbeglöckchen geläutet.

Bei all den Brexit-Manövern, den sich jagenden Abstimmungen, den Wellengängen mit Mehrheit und Minderheit, handelt es sich nämlich längst nicht mehr um den Normalfall der Demokratie. Hier sind Kräfte am Werk, die sich den Regeln des Westminister-Parlamentarismus entziehen. Nur mit dem über die Jahrhunderte gewachsenen Urvertrauen in ihre Demokratie kann eine Wählerschaft dieses Schauspiel noch ertragen - in der Gewissheit, dass man auch diese Verirrung überstehen wird.

Der ätzende Brexit-Prozess hat zwei Wochen vor dem Datum des Austritts fast zum Totalschaden im politischen System geführt. Die Premierministerin führt ihr Amt auf Abruf. Sie kommandiert keine Mehrheiten mehr, sie ist nicht mehr Herrin des Verfahrens. Allein die Sorge vor noch mehr Chaos nach einem Führungswechsel und vor einem Auseinanderbrechen der Tories verhindert ihren Sturz.

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Denn dies ist noch immer die Prämisse der Konservativen im Brexit-Prozess: Die Partei darf nicht zerfallen, und sie darf die Macht nicht verlieren. Solange Teresa May noch zwischen Number 10 und der Dispatch Box im Parlament hin- und hergefahren werden kann, dient sie ihrer Partei.

Das Kabinett regiert ebenfalls nur noch zum Schein. Die wachsende Zahl Abtrünniger, Widerständiger oder freiwillig Abtretender zeigt, dass die Premierministerin die Kontrolle über ihr wichtigstes Machtinstrument verloren hat. Die Loyalität der Minister ist aufgekündigt, wer noch dabei ist, trägt einen Dolch im Gewand.

Es gelten die Gesetze der Angst

Das Parlament hat in den vergangenen Wochen den Versuch unternommen, die Oberhoheit über das Brexit-Verfahren zu gewinnen. Auch das ist misslungen. Zwar haben die Abstimmungen dieser Woche die Dynamik maßgeblich beeinflusst. Gelöst aber wurde damit noch lange nichts.

Dem Parlament fehlt der Gravitationspunkt, an dem sich eine Mehrheit sammeln kann. Die Opposition als Alternative? Nicht einmal eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten möchte es riskieren, dass ihr Parteivorsitzender Jeremy Corbyn die Regierung übernimmt. Diese Konstellation ist einmalig: Eine Opposition innerhalb der Opposition verhindert die Machtübernahme der Opposition.

Bei Labour - wie im Parlament insgesamt - gelten also die Gesetze der Angst: Niemand darf an dem windschiefen Haus rütteln, es könnte zusammenfallen. Die Krise kann so groß gar nicht sein, als dass sie die Lagerlogik des britischen Wahlsystems aufbrechen würde.

Auch wenn der Brexit das politische Milieu längst in mindestens vier oder fünf Gruppierungen geteilt hat: Die britische Politik kann sich nicht befreien aus ihrer binären Formation. Regierung und Opposition - dazwischen gibt es nichts. Keine neue Partei kann entstehen, um den Weg aus dem Schlamassel zu weisen. Keine parteiübergreifende Allianz ist stark genug, um wenigstens die schwachen Figuren an der Spitze hinwegzufegen.

So stabilisiert dieses marode System sich selbst. Schwache Anführer und schwache Parteien führen zu einer schwachen Politik. Der britische Parlamentarismus fördert Mittelmäßigkeit und gibt den Radikalen Macht zur Obstruktion - ohne ihnen freilich einen echten Zugriff auf die Macht zu erlauben. Die Tories sind Gefangene ihrer Brexit-Hardliner, Labour ist ein Werkzeug seiner ungeliebten Führung. Bricht eine Stütze dieses Systems weg, kollabiert die gesamte Konstruktion.

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Dies ist der befremdliche, unerklärliche Teil des Dramas um den EU-Austritt: Wo bleiben die Vernunft, die Kompromissbereitschaft, das Opfer zugunsten des Systems und - ein bisschen pathetischer formuliert - für die Demokratie? Die politische Führung Britanniens legt einen Zynismus an den Tag, als ginge sie das Schicksal des Landes nichts an, das zu schützen sie gewählt worden ist. Die britische Politik ist betoniert.

Demokratie lebt vom Ausgleich der Interessen, vom Kompromiss und davon, dass sich alle Kontrahenten auf ein Minimum an Wahrheit und Sachlichkeit verständigen können, um von dieser Basis aus ihre Interessen zu verfolgen. Von dieser Selbstverständlichkeit haben sich ein paar nicht ganz so lupenreine Demokratien auf der Welt bereits verabschiedet.

Ihr Demokratieverständnis sieht vor, dass die Mehrheit um jeden Preis den Kurs bestimmt, und dass der Ausgleich mit der Minderheit des Teufels ist - eine populistische Erfolgsformel, die nur Freund und Feind kennt. Donald Trump lebt sie vor. Ihr Ergebnis ist freilich Lähmung, der Stillstand des Systems. Die USA leiden schon viele Jahre unter diesen Blockadesymptomen.

Der Kreislauf aus Zermürbung und Erpressung wird weitergehen

Das britische System steckt nun seit 995 Tagen in der Lähmungsphase. In 14 Tagen sollte sie durch den Austrittstermin überwunden werden. Doch das Gift aus dem Referendum ist durch alle Blutbahnen in das System gedrungen. Das reagiert mit einer Art Notabschaltung. Wie kommt es wieder in Gang?

Theresa May wird ihren Austrittsplan kommende Woche ein drittes Mal zur Abstimmung stellen. Wieder wird sie ein paar Stimmen mehr bekommen, aber vermutlich nicht die Mehrheit. Dann wird sie um Verlängerung bitten, welche die EU gewährt. Alles andere würde auch diese beschädigen.

Und dann? Wird der Kreislauf aus Zermürbung und Erpressung weitergehen, weil die Blockade von Macht und Mehrheit noch nicht durchbrochen werden kann. Einige Ereignisse könnten die Dynamik noch verändern: ein freiwilliger Rücktritt Mays, eine Revolte im Kabinett, ein Aufstand gegen den Labour-Vorsitzenden. Und irgendwann wird sich dieses System neu erfinden. Immerhin das weiß man aus der Erfahrung von 330 Jahren.

© SZ vom 16.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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