Ukraine-Krieg:Junge Menschen, vereint im Leid

Lesezeit: 4 min

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrer Ankunft am NATO-Hauptquartier in Brüssel. (Foto: Thomas Trutschel/picture alliance)

Außenministerin Baerbock spricht in Berlin mit Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Ukraine, Belarus und Russland über den Krieg. Die einen erzählen von ihren Sorgen um ihre Familien in der Heimat, die andere von Anfeindungen, die hier über sie ergehen.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Es kommt, wie es die Außenministerin vermutet hat. Kaum ist sie an den Stehtisch getreten, an dem vier junge Frauen in einem Raum der Akademie der Wissenschaften warten, bricht eine von ihnen in Schluchzen aus. "Meine Familie sitzt in Kiew im Schutzbunker", sagt sie. "Es werden sicher gleich auch viele Tränen rollen, weil es einen ja zerreißt, was passiert", hatte Annalena Baerbock zur Begrüßung gesagt. Sie hat um das Treffen gebeten mit Stipendiatinnen und Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Humboldt-Stiftung - und um möglichst offene Gespräche. 17 sind gekommen an diesem Nachmittag, aus Belarus, aus Russland, aus der Ukraine, 16 von ihnen Frauen.

Baerbock will ihnen vor allem zuhören. Will erfahren, wie es ihnen geht, was sie denken. Es sind Gesprächsebenen an diesem Nachmittag, die weiter nicht auseinanderliegen könnten. Die Sorgen um die Familien, die Anfeindungen, die sie in Deutschland erleben, weil sie Russisch sprechen - oder es sich für deutsche Ohren zumindest so anhört. Und die politische Debatte. Einige der Teilnehmerinnen, 23 bis 32 Jahre alt, forschen an Fragen, die akut relevant sind, zur öffentlichen Meinung in Russland oder zum Verhältnis von Präsident Wladimir Putin zu Ramsam Kadyrow, dem gefürchteten Statthalter des Kreml in Tschetschenien, dessen Truppen nun an der Invasion in der Ukraine beteiligt sein sollen.

Die Stipendiatin erzählt, dass sie nachts nicht schlafen kann, stündlich ihr Handy checkt, jedes Mal aufschreckt, wenn wieder die Meldungen kommen aus Kiew, dass es Detonationen gibt, neue Angriffe. "Ich schaue dann immer gleich, wo es gewesen ist, und schreibe meinen Eltern", sagt sie. Verzweiflung und Erschöpfung lassen sich an den Augenringen ablesen, trotz Make-up. Die anderen am Tisch, eine Frau aus der Ostukraine, eine aus Russland, eine aus Belarus nehmen sie in den Arm, trösten sie, auch die Ministerin.

SZ PlusFlüchtlinge aus der Ukraine
:Zimmer frei

Eine halbe Million Flüchtlinge in einer Woche, nicht nur die Polen scheinen damit gerade kein Problem zu haben, auch in Brüssel bewegt sich einiges. Und die Menschen in Europa? Überschlagen sich vor Solidarität. Eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein.

Von Viktoria Großmann, Cathrin Kahlweit und Josef Kelnberger

Es gibt das Bedürfnis, aus der Ferne zu helfen

Dann zieht die Frau, die eben noch unter Tränen vom Leid ihrer Familie berichtet hat, eine Prospekthülle hervor: ein Studie eines ukrainischen Think Tanks. Jetzt geht es darum, wie man der Wirtschaft in dem Land helfen könnte. "Wenn Sie das weitergeben könnten", sagt die Stipendiatin. "Sie haben sicher viele Mitarbeiter, die sich mit so etwas beschäftigen." Es ist das Bedürfnis, irgendwie aus der Ferne zu helfen, wenn man schon fern vom Krieg in Deutschland lebt. Und vielleicht auch eine Ablenkung, weil die Situation anders gar nicht nicht auszuhalten ist

Eine der Frauen hat ihr Namenschild an einem roten Band um den Hals hängen, wie etwa die Hälfte hier. Viele von ihnen sind in Deutschland, weil sie mit den politischen Verhältnissen in ihren Herkunftsstaaten nicht einverstanden sind. Und sie könnten in Gefahr sein, wenn ihre Namen öffentlich würden oder Bilder von ihnen auf der Veranstaltung. Wer ein rotes Band trägt, darf nicht fotografiert werden. "20 Jahre Haft drohen uns", sagt eine Frau aus Russland - Unterstützung fremder Staaten oder internationaler Organisationen kann laut dem Generalstaatsanwalt in Moskau seit Beginn der "besonderen Militäroperation" als Verrat geahndet werden. Die Repression in Putins Reich zieht drastisch an.

In Belarus sind die Menschen nicht weniger gefangen. Sie haben gegen den Diktator Alexander Lukanschenko protestiert. Der hat mit Gewalt zurückgeschlagen und "unser Land an Putin verkauft", sagt die andere Stipendiatin am Tisch. Jetzt führt Putin von Belarus aus Krieg gegen die Ukraine, und die Männer im Land müssen fürchten, dass Lukaschenko auch sie in einen Krieg schickt, den sie nicht wollen. "Für Belarus gibt es keinen guten Ausgang", sagt sie, und muss auch schlucken. Doch anders als die Ukrainer, die visafrei in die EU kommen und flüchten können, ist das für Menschen aus Belarus "äußerst kompliziert", wie die Frau sagt - auch für junge Männer, die sich etwa dem Wehrdienst entziehen wollen.

Ob die Menschen in Russland der staatlichen Propaganda glauben, will die Ministerin an einem der anderen Tische wissen. Manche schon, antworten die Gesprächspartnerinnen. "Viele denken, am besten mische ich mich nicht ein", sagt eine der Frauen. "Sie denken vor allem an die Sicherheit ihrer Familie." Man müsse im Gedächtnis behalten, dass Russland eine lange Geschichte habe, die den Menschen lehrte, in Angst vor der Politik und dem Regime zu leben, sagt eine andere.

Verantwortlich gemacht für Dinge, die sie zutiefst ablehnen

Im Gastland, das für viele zur neuen Heimat geworden ist oder gezwungenermaßen werden wird, sind sie immerhin sicher vor dem Zugriff und der Willkür des Staates. Aber sie sehen sich stigmatisiert, ausgegrenzt, verantwortlich gemacht für Dinge, die sie zutiefst ablehnen. Freunde, die nach ihrem Studium in Deutschland einen Job gefunden hätten, seien unter Verweis auf den Krieg wieder hinausgeworfen worden, berichten die Frauen.

Man dürfe nicht zulassen, dass Menschen "einfach für die Politik ihrer Regierungen in Haft genommen werden, sagt Baerbock. Sie will mit dem Treffen auch ein Zeichen der Solidarität setzen mit Menschen aus Belarus und Russland, die in Deutschland leben. Das Auswärtige Amt unterstützt auch eine Reihe von Schutzprogrammen, mit denen Wissenschaftler und Kulturschaffende, die wegen ihrer politischen Haltung gefährdet sind, Deutschland leben können.

Einen ganz konkreten Vorschlag hat eine der russischen Stipendiatinnen dann. Sie hat ihn aufgeschrieben mit Kuli. Putins Armee steht da, mit Ausrufezeichen, und Putin unterstrichen. "Wenn Sie von dem Krieg reden, sprechen sie von Putins Krieg, von Putins Armee, nicht von der russischen oder den Russen", sagt sie. Baerbock tut das meistens ohnehin. Sie wird diese Gespräche im Kopf gehabt haben, als sie am Freitagmorgen in Brüssel vor die Kameras tritt.

Vom " Angriffskrieg Putins" spricht sie, vom "unglaublichen Leid der Menschen in der gesamten Ukraine". "Unbegreiflich und unermesslich", sei das, was "wir in den letzten Tagen gesehen und gehört haben". Nicht nur in Kabelberichten oder den Fernsehnachrichten. "Das ist Putins Krieg" wiederholt die Außenministerin und betont: "Wir leben gemeinsam in Frieden mit vielem Menschen aus Belarus und Russland, die diesen Krieg nicht wollen."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungAnnalena Baerbock
:Frau der klaren Worte

In ihrer Rede vor den Vereinten Nationen versucht Außenministerin Baerbock gar nicht erst, sich hinter den Floskeln der Diplomatie zu verstecken. Das ist gut und längst überfällig. Doch jetzt kommt es vor allem darauf an, welche Taten folgen werden.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: