Ostseerat:Munition am Meeresgrund

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Bundesaußenministerin Baerbock erklärt am Mikrofon im Hafen von Wismar die Funktionsweise einer Wassermine aus dem Ersten Weltkrieg. (Foto: Jens Büttner/DPA)

Russland gehört nicht mehr dazu, doch der Ostseerat behauptet sich auch so: Die Außenminister der Anrainerstaaten, darunter Annalena Baerbock, wollen die Ostsee von Kriegsaltlasten befreien.

Von Paul-Anton Krüger, Wismar

Vertrauen ist wichtig in der internationalen Politik - das ist eine der Lehren, die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock gezogen hat aus dem Bruch mit allen Gewissheiten und Regeln, den Russlands Angriff auf die Ukraine bedeutet. "Das Vertrauen, das wir in die Partnerschaft mit Russland gesetzt haben, ist dahin", sagt sie. Sich offen auszutauschen unter Verbündeten ist ihr Mittel im Umgang mit dieser Realität. Deswegen hat sie vergangenes Jahr ein informelles Treffen der Nato-Außenminister ausgerichtet. Deswegen hat sie den Ostseerat, dem Deutschland derzeit vorsitzt, direkt an das diesjährige Nato-Treffen in Oslo angeschlossen.

Wenn man sich gut kennt, lässt sich auch politisch gemeinsam mehr erreichen. Und so lud Baerbock ihre Kollegen aus den Anrainerstaaten Dänemark, Estland, Finnland, Litauen, Lettland, Polen und Schweden sowie Island und Norwegen ein, gemeinsam mit ihr in der Maschine der Flugbereitschaft von Norwegen nach Rostock zu reisen und weiter nach Wismar. Bei Hummer- oder Trüffelrisotto konnten sich die Minister aus der Vogelperspektive ein Bild machen von ihrem Beratungsgegenstand.

"Die Sicherheit eines jeden von uns ist die Sicherheit von uns allen."

Keine Lust auf Klassenfahrt-Atmosphäre und Flugzeug-Selfies hatte Polens Außenminister Zbigniew Rau, der sich in Wismar von einem Staatssekretär vertreten ließ - zu Hause ist Wahlkampf, und Kooperation mit Deutschland passt nicht in die Strategie der regierenden PiS-Partei, die mit Konfrontation um Stimmen buhlt. Der lettische Außenminister musste passen, weil er überraschend vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Und der Finne fehlte, weil er noch US-Außenminister Tony Blinken in Helsinki zu Gast hatte.

Selfie im Regierungsflieger (von li. im Uhrzeigersinn): Annalena Baerbock mit Tobias Billström (Schweden), Andris Pelšs (Estland), Lars Løkke Rasmussen (Dänemark), Thórdís Gylfadóttir (Island) und Gabrielius Landsbergis (Litauen). (Foto: Auswärtiges Amt)

Russlands Angriff auf die Ukraine hat auch den Ostseerat, 1992 vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit initiiert, in eine Krise gestürzt. Eine "optimistische Zeit in der Region" sei das gewesen damals, sagt Norwegens Außenministerin Anniken Huitfeldt. Vergangenes Jahr dagegen habe man überlegt, ob das Forum noch Sinn ergebe, fügt Baerbock hinzu - glücklicherweise habe man sich entschieden, die Kooperation weiter zu vertiefen. Russland ist, nachdem seine Mitgliedschaft suspendiert worden war, im Mai 2022 ausgetreten. Bis zum Krieg war der Rat eine der wenigen verbliebenen Runden, in denen konkrete Zusammenarbeit bei Fachthemen möglich war.

Die Sicherheitslage sei der Hintergrund aller Beratungen, sagt Huitfeldt. "Die Sicherheit eines jeden von uns ist die Sicherheit von uns allen - gerade hier in der Ostseeregion", so formuliert es Baerbock. In den Wassern der Ostsee spiegele sich die Weltpolitik, viel zu oft leider in düsteren Farben. Beispiele aus der Vergangenheit waren auf der Kaimauer des alten Hafens in Wismar aufgereiht, als die Ministerinnen und Minister Donnerstagnachmittag ankamen: verrostete Hüllen von Seeminen, Fliegerbomben, Granaten - Überbleibsel der beiden Weltkriege und Munition, die einfach in der Ostsee verklappt wurde, darunter Phosphorgeschosse.

400 000 Tonnen Munition und etwa 40 000 Tonnen chemische Kampfstoffe

Nach Schätzungen des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung liegen bis zu 400 000 Tonnen konventionelle Munition und etwa 40 000 Tonnen chemische Kampfstoffe auf dem Meeresgrund zwischen Flensburger Förde und Bottnischem Meerbusen. Bei der Bergung dieser "gefährlichen Spuren der Vergangenheit" wollen die Staaten enger zusammenarbeiten, ein vollständiges Kataster der Fundstätten erstellen und Informationen austauschen, gemeinsam Technologien wie Tauchroboter oder Datenbanken entwickeln.

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Von der Munition gehe ein Risiko für Mensch und Umwelt aus, die Schifffahrt sei ebenso gefährdet wie Unterseekabel, sagte Baerbock. Viele der Minen sind heute noch scharf, die Zünder funktionieren auch nach mehr als 75 Jahren noch, und der Sprengstoff detoniert. Munition, die durchrostet, setzt wiederum giftige Chemikalien frei, die in die Nahrungskette gelangen. Die Bundesregierung hat ein Sofortprogramm mit 100 Millionen Euro aufgelegt, aber das könne nur ein Anfang sein, sagt die Außenministerin.

Die Räumung der Munition ist oft auch Voraussetzung für andere Projekte, die man gemeinsam vorantreiben will: der Bau von Offshore-Windfarmen. Die Stromerzeugung in der Ostsee solle bis 2030 versiebenfacht werden, kündigte Baerbock am Freitag in Wismar an. Bis zu vier Meter tief im Sediment finden sich alte Minen, die aufwendig von Tauchern identifiziert werden müssen, um sie anschließend unschädlich zu machen, wenn die Ostsee in ein "gigantisches blaues Kraftwerk" verwandelt werden soll, wie Baerbock es formuliert. Der Vorteil: Die Projektentwickler sollen sich wie bei Munitionsfunden an Land an den Kosten für die Räumung beteiligen.

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