Wenn das Land Baden-Württemberg ein Gefängnis für 400 Häftlinge bauen will, ist das normalerweise kein großes Politikum. In diesem Fall schon. Die Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Stadt Tunningen nämlich haben vergangenes Jahr in einem Bürgerentscheid verhindert, dass das Gefängnis vor ihrer Nase gebaut wird. Also plante man in Rottweil, doch dort stand der Regierung schon bald ein ähnliches Schicksal bevor: Wieder ein Bürgerentscheid. Die für Bürgerbeteiligung zuständige Staatsrätin Gisela Erler wurde gefragt, was denn geschehe, wenn das Votum erneut negativ ausfalle. Dann, sagte Staatsrätin Erler, könne die Regierung rein rechtlich trotzdem bauen.
Das gab ein großes Hallo. So also sehe die von Ministerpräsident Kretschmann proklamierte "Politik des Gehörtwerdens" aus, ätzte die Opposition. Die Rottweiler stimmten dann in der vergangenen Woche doch für den Bau des Gefängnisses. So blieb der grün-roten Regierung die Frage erspart, ob sie über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden soll - fünf Jahre nach dem "Schwarzen Donnerstag", dem sie nicht zuletzt ihre Existenz verdankt.
Der Tag steht noch heute für eine Politik, die keinen Widerspruch duldet
An diesem Mittwoch jährt sich zum fünften Mal der umstrittene Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten, der die politische Kultur in Deutschland verändert hat. Die Beamten gingen damals mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen Gegner des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 vor. Das Bild eines Rentners, der im Wasserstrahl sein Augenlicht verlor, steht noch heute sinnbildlich für eine Politik, die keinen Widerspruch duldet. Die CDU verlor ein halbes Jahr später erstmals die Macht in Baden-Württemberg, ein grüner Ministerpräsident trat an mit dem Versprechen, einen neuen Politikstil zu prägen.
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Baden-Württemberg und Hessen sehen weitere Balkanländer als sichere Herkunftsstaaten - unter der Bedingung, dass die Bundesregierung Zugeständnisse macht.
Fünf Jahre danach gelten Kretschmann und die Grünen den S-21-Gegnern als Verräter. An diesem Mittwoch rufen sie zu einer Demonstration auf. Sie wollen gegen die juristische und politische Aufarbeitung protestieren, die zu zögerlich betrieben werde. Aber natürlich richtet sich der Zorn vor allem dagegen, dass der Bau des Tiefbahnhofs nicht gestoppt wurde. Den Volksentscheid, den die Regierung initiierte und der für den Bau des Projekts ausfiel, halten sie für einen Winkelzug.
Fünf Jahre nach dem "Schwarzen Donnerstag" lebt auch noch der "Wutbürger". Der Begriff wurde in den Tagen des Protests vom Spiegel geprägt und steht für Egoisten, die nicht zugänglich sind für Argumente, sich dem Allgemeinwohl verweigern und so die Fortschrittsfähigkeit der Demokratie gefährden. Ob das Etikett für die Stuttgart-21-Gegner passt, ist zweifelhaft. Sie haben neben ihrer Wut immer auch gute Argumente. Aber viele Gegner von Infrastrukturprojekten nehmen sich vor allem die Stuttgarter Wut zum Vorbild.
Die Regierung Kretschmann hat versucht, die Bürgerwut einzuhegen. Kretschmann berief Gisela Erler in sein Staatsministerium, als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft. So ein Amt gibt es sonst nirgends. Erler erarbeitete einen "Leitfaden für eine neue Planungskultur". Es geht darin um Information und Mitwirkung, Arbeitskreise und Runde Tische. Auf einem Online-Portal können Gesetzestexte gelesen und kommentiert werden.
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Der Dialog mit dem Bürger ist ein mühsames, aber doch lohnendes Geschäft, exemplarisch zu verfolgen bei der Einrichtung des Nationalparks im Schwarzwald. Dabei handelte es sich um das wohl umstrittenste Infrastrukturprojekt der Regierung Kretschmann. In einigen betroffenen Gemeinden wurden Meinungsbilder erstellt, die gegen das Vorhaben ausfielen. Die Regierung machte aber klar, dass es sich um ein Landesprojekt handle und deshalb die Entscheidung letztlich das Parlament treffen werde. Das hat die Wut noch gesteigert. Und doch, so sagte der zuständige Minister Alexander Bonde hinterher, sei das Projekt durch Kritik und Anregungen der Bürger besser geworden. Der Nationalpark ist mittlerweile sehr beliebt, und einer Umfrage zufolge fühlten sich die Bürger auch ausreichend eingebunden.
Der Bürger will weniger mitarbeiten als vielmehr selbst entscheiden
Eine Erfahrung von damals lässt sich auf alle Beteiligungsprojekte übertragen: Wenn es darum geht, den Politikern die Meinung zu geigen, ist der Andrang groß; wenn aber Leute gesucht werden, die sich zum Beispiel im Arbeitskreis mit dem Borkenkäfer-Management befassen, wird es schwieriger. Der Bürger will weniger mitarbeiten als vielmehr selbst entscheiden.
Gemeinsam mit CDU und FDP hat sich die grün-rote Koalition deshalb darauf verständigt, die direkte Demokratie auf kommunaler und auf Landesebene in Baden-Württemberg auszubauen. Die Hürden für Volksbegehren, Volksentscheide und Bürgerentscheide sollen gesenkt werden. Eines aber ist nach dem "Schwarzen Donnerstag" genau so geblieben, wie es vorher war: Das Allgemeinwohl liegt vor allem in der Hand von Regierung und Parlament.