Ein Bild und seine Geschichte:Der Rote Teufel mit Elektroantrieb

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Camille Jenatzy mit seiner "La Jamais Contente" zwei Tage nach der Rekordfahrt. (Foto: Museum AUTOVISION)

Vor 120 Jahren fuhr der Belgier Camille Jenatzy als erster Mensch schneller als 100 Kilometer pro Stunde - mit einem Auto, das an einen Torpedo erinnert.

Von Philipp Saul

Der spektakulären Rekordfahrt ging ein monatelanger Wettstreit voraus. Bevor der belgische Autokonstrukteur Camille Jenatzy als erster Mensch ein Automobil auf mehr als 100 Kilometer pro Stunde beschleunigte, stachelte er sich mit einem Rivalen immer wieder zu neuen Bestmarken an. Im Dezember 1898 stellte der französische Adlige Gaston de Chasseloup-Laubat den ersten offiziellen Geschwindigkeitsrekord auf. Mit seinem einer pferdelosen Kutsche ähnelnden Wagen fuhr er mehr als 63 km/h schnell.

Das ließ dem belgischen Autokonstrukteur Camille Jenatzy keine Ruhe. Der heißblütige Mann mit rotem Haar und Ziegenbart wollte Ruhm und Ehre als schnellster Fahrer für sich beanspruchen. Die beiden verschoben die Geschwindigkeitsrekorde immer weiter und weiter. Anfang März 1899 erreichte Chasseloup-Laubat fast 93 Kilometer pro Stunde und Jenatzy kündigte umgehend an, den neuen Rekord binnen kurzer Zeit zu verbessern.

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Seit einem Aufenthalt in England nannte man Jenatzy dort "Red Devil" - "Roter Teufel". Er galt als aufbrausend. Während eines Autorennens soll er einmal aus seinem Wagen gesprungen sein, um einen Zuschauer zu schlagen, dessen Verhalten ihm nicht gefiel.

Der ehrgeizige Belgier entwickelte das erste Auto, das extra für ein Rennen konstruiert wurde. Der Wagen bekam den Namen "La Jamais Contente" - "Die niemals Zufriedene". Sie war deutlich aerodynamischer als ihre Vorgänger und hatte die Form eines Torpedos: vier Meter lang, mit einer zigarrenförmigen Karosserie und vorne spitz zulaufend. Darunter waren zwei schwere Batterieblöcke verborgen. Wie eine Seifenkiste lag die bläulich-graue Konstruktion auf den vier Rädern. Im hinteren Bereich thronte der "Rote Teufel", nur die Beine waren im Wageninneren versteckt.

Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist es, dass Jenatzy und Chasseloup-Laubat ihre Rekordjagd damals nicht mit einem Verbrennungsmotor bestritten, sondern mit elektrisch betriebenen Wagen. Elektromotoren waren um die Jahrhundertwende beliebt wie nie zuvor - und niemals danach. Im Jahr 1900 waren beispielsweise in den USA 38 Prozent aller Autos mit einem Elektromotor ausgestattet. 40 Prozent wurden mit Dampf betrieben und nur 22 Prozent aller Fahrzeuge liefen mit einem Verbrennungsmotor.

Weil das Straßennetz um 1900 noch nicht so gut ausgebaut war wie heute, spielte Reichweite damals keine große Rolle. Und so bevorzugten viele Menschen den leisen Elektromotor, der ohne Gestank und starke Vibration auskam. Überdies war der Elektroantrieb leichter zu bedienen und musste nicht wie der Verbrennungsmotor mit viel Kraft und einer Kurbel angeworfen werden.

Als Jenatzy am 29. April 1899 auf der Rennstrecke nordwestlich von Paris in Achères auf das Startsignal wartete, stand ihm eine historische Fahrt bevor. Wochenlang hatte er auf diesen Tag hingearbeitet und nun sollte alles ganz schnell gehen. Unter den Augen seines Konkurrenten Chasseloup-Laubat startete Jenatzy auf die nur zwei Kilometer lange Strecke.

Für die ersten 1000 Meter maß die Jury 47,8 Sekunden. Ausschlaggebend für einen neuen Rekord war aber der zweite Kilometer, bei dem das Auto durch den fliegenden Start nicht erst beschleunigen musste. Jenatzy benötigte für das zweite Teilstück genau 34 Sekunden, was einer Durchschnittgeschwindigkeit von 105,88 km/h entspricht. Jenatzy hatte als erster Mensch der Welt mit einem Auto die magische Grenze von 100 Kilometer pro Stunde geknackt. Sein Rivale Chasseloup-Laubat war bedient. Er gratulierte dem neuen Rekordhalter und kündigte an, nie wieder ein Rennen zu fahren.

Nach seinem Triumph widmete sich Jenatzy immer mehr den Autorennen, wechselte aber die Antriebsform. Er ging in einem benzinbetriebenen Mercedes für die deutsche Daimler-Motoren-Gesellschaft an den Start und fuhr 1903 beim Gordon Bennet Cup in Irland den ersten internationalen Sieg der Marke ein. Wegen seines nicht ungefährlichen Lebens als Rennfahrer soll Jenatzy davon ausgegangen sein, irgendwann in einem Mercedes bei einem Rennunfall zu sterben. Dazu kam es nicht. Er beendete seine Karriere lebend.

Aber ganz Unrecht hatte Jenatzy mit seinen Prophezeiungen nicht. Bei einem Jagdausflug 1913 mit einem Bekannten in den belgischen Ardennen glaubte dieser, in der Abenddämmerung einen Rehbock gesehen zu haben - Jenatzy hatte die Rufe des Tiers imitiert. Der Bekannte feuerte, doch der Schuss schlug fehl und die Sprengkugel traf Jenatzy in den Oberschenkel. Noch auf dem Weg zu einem Arzt verblutete er im Auto. Die Marke des Wagens: Mercedes.

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