Rüstungskontrolle:Kaltstart

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Die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausches ist Experten zufolge so hoch wie lange nicht. Wie schnell solch eine verheerende Dynamik in Gang kommen kann, deutet schon der Name dieser US-Rakete an: "Minuteman 3". (Foto: Charlie Riedel/AP)

Das New-Start-Abkommen ist der letzte Vertrag zur Rüstungskontrolle, der die Atomarsenale von Russland und den USA noch beschränkt. Joe Biden will ihn erhalten - doch 16 Tage nach seinem Amtsantritt läuft die Frist zur Verlängerung aus.

Von Paul-Anton Krüger, München

Um ihr außenpolitisches Erbe ringen US-Präsidenten üblicherweise am Ende ihrer Amtszeit. Joe Biden dagegen bleiben nach seiner Vereidigung am 20. Januar nur 16 Tage für eine Entscheidung, die sein internationales Wirken prägen wird: Am 5. Februar läuft der letzte großen Abrüstungsvertrag mit Russland aus, New Start. Wenn er nicht noch einvernehmlich verlängert wird.

Andernfalls würden zum ersten Mal seit mehr als vier Jahrzehnten alle Begrenzungen für die Atomarsenale der einstigen Supermächte fallen. Die Ära der Rüstungskontrolle wäre zu Ende - der Versuch, dem nuklearen Wettrüsten mittels Verträgen Grenzen zu setzen. Seit John F. Kennedy hat jeder US-Präsident, ob Demokrat oder Republikaner, wenigstens ein Abkommen mit der Sowjetunion oder Russland geschlossen, um die Gefahr eines Atomkrieges zu verringern.

Donald Trump hat mit dieser Tradition gebrochen. Stattdessen schleifte er einige der verbliebenen Pfeiler der internationalen Ordnung: den INF-Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen oder das Open-Skies-Abkommen, das der Nato unbewaffnete Überwachungsflüge über Russland erlaubte und umgekehrt. Stattdessen drohte er mit einem Wettrüsten, das weder Russland noch China gewinnen könnten, spielte gar mit dem Gedanken, wieder Atomtests vorzunehmen.

Das Risiko nuklearer Schläge ist laut Experten so hoch wie lange nicht

Unterzeichnet hatte das New-Start-Abkommen US-Präsident Barack Obama mit dem damaligen russischen Staatschef Dmitrij Medwedjew im April 2010 in Prag. Das Abkommen begrenzt die Zahl der Trägersysteme für strategische Atomwaffen auf 800 auf jeder Seite, davon dürfen 700 gefechtsbereit gehalten werden. Unter das Limit fallen bodengestützte Interkontinentalraketen, auf U-Booten stationierte ballistische Raketen sowie schwere Bomber. Insgesamt dürfen sie mit nicht mehr als 1550 gefechtsbereiten Atomsprengköpfen bewaffnet sein.

Im Jahr zuvor hatte Obama in Tschechiens Hauptstadt seine Vision von einer Welt ohne Atomwaffen skizziert. Heute halten viele Experten das Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs für so hoch wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit Ende des Kalten Krieges.

Gut gelaunt nach Vertragsabschluss: US-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedew unterzeichneten 2010 das New-Start-Abkommen. (Foto: Mikhail Metzel/AP)

Für eine Verlängerung des Vertrags, die Biden nach eigenen Worten anstrebt, sprechen aus Sicht vieler Experten nicht nur die Obergrenzen für Waffensysteme - der Vertrag enthält auch detaillierte Bestimmungen, die Russland und den USA wertvolle Informationen über die Aufstellung der Atomstreitkräfte der Gegenseite gewähren.

Zwar können sie frei über deren Zusammensetzung und Stationierung entscheiden. Informationen über Stützpunkte, die Zahl der dort befindlichen Trägersysteme und Sprengköpfe aber müssen regelmäßig übermittelt werden. Bis zu 18 Mal im Jahr können sie bei kurzfristigen Inspektionen geprüft werden. Dabei können Militärbeobachter die auf einer Rakete montierten Sprengköpfe zählen.

Informationen sollen Vertrauen schaffen

Solche Einblicke und andere Regeln des Vertrags machen die Arsenale berechenbarer, verringern die Gefahr von Fehlinterpretationen, verbessern mithin die strategische Stabilität. Das soll Vertrauen schaffen, dass die Gegenseite nicht zu einem Überraschungsangriff greift, um das Arsenal des Gegners auszuschalten.

Das hört sich nach Armageddon an, doch der Verlust von Vertrauen ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass das Risiko eines Atomkrieges wieder steigt. Dazu beigetragen haben nicht nur Trumps Vertragskündigungen, sondern auch Russlands Verstöße gegen den INF-Vertrag oder die Entwicklung neuer Waffensysteme. Moskau wiederum sieht das strategische Gleichgewicht gefährdet durch Amerikas Streben nach einer Raketenabwehr, das bis zu Ronald Reagan zurückreicht.

In den letzten Monaten seiner Amtszeit hatte auch Trump intensiv mit Russland über eine Verlängerung von New Start verhandeln lassen. Zunächst verlangte er allerdings, China müsse in das Abkommen einbezogen werden - was Peking entschieden ablehnte.

Dann versuchte er, Russland Zugeständnisse abzutrotzen bei den vom Abkommen nicht geregelten taktischen Atomwaffen. Moskau hält nach unabhängigen Schätzungen etwa 2000 solcher Sprengköpfe einsatzbereit, die USA lediglich 230. Eine Einigung vor der US-Wahl, mit der Trump liebäugelte, um als Staatsmann zu glänzen, blieb aus. Es gab Streit, wie das angestrebte Moratorium für die Produktion neuer Sprengköpfe zu überwachen sei.

Eigentlich wäre ein umfassenderes Abkommen nötig

Biden bleibt jetzt kaum mehr, als den Vertrag unverändert zu verlängern. Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Bereitschaft dazu erklärt - und wohl auch darauf gesetzt, als er Trumps Offerten ausschlug. Unklar ist, ob Biden gleich fünf Jahre anstrebt oder einen kürzeren Zeitraum, verbunden mit der Vereinbarung auf neue Abrüstungsverhandlungen. Klar ist, dass eigentlich ein umfassenderes Abkommen nötig wäre.

Scheitert eine Verlängerung, hätte dies weitreichende Folgen: Im August ist bei den Vereinten Nationen in New York die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag angesetzt, die wegen der Corona-Epidemie vergangenes Jahr verschoben wurde. Dort werden sich die fünf offiziellen Atommächte wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, ihrem Versprechen zur nuklearen Abrüstung nicht gerecht zu werden.

Sollte zudem die angestrebte Nukleardiplomatie mit Iran keine Erfolge zeitigen oder Nordkoreas Diktator Kim Jong-un weitere Atombomben testen, geriete auch dieser Vertrag ins Wanken. Dann wäre nicht nur ein neues nukleares Wettrüsten zwischen den einstigen Supermächten zu befürchten, sondern auch ein Wettrennen um die Bombe im Nahen Osten und eine Eskalation in Asien.

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