"ATACMS" für die Ukraine:Eine Waffe, die Moskau Probleme machen wird

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Das "ATACMS"-System, hier bei einem Test in Südkorea. (Foto: -/dpa)

Nach langem Zögern werden die USA der Ukraine Raketen vom Typ "ATACMS" liefern. Auf den Krieg hat das große Auswirkungen.

Von Sebastian Gierke

Die eine Wunderwaffe, die den Krieg beenden kann, existiert nicht. Kein Kampfpanzer, keine Haubitze, keines der Systeme, die westliche Partner der Ukraine bisher zur Verfügung gestellt haben, kann dem angegriffenen Land allein zum Sieg verhelfen. Doch jede dieser Waffen eröffnet Kiew neue Möglichkeiten zu effektivem Widerstand - das Army Tactical Missile System sogar noch bessere als andere. Durch ATACMS-Raketen erhält Kiew militärische Fähigkeiten, die den russischen Streitkräften große Probleme bereiten werden. Die Ukraine fordert diese Waffe schon seit Langem, nun hat die US-Regierung entschieden, zumindest eine kleine Anzahl zu liefern. Die offizielle Bestätigung aus Washington steht allerdings noch aus. Am Montag bestätigte Präsident Wolodimir Selenskij zudem, dass sich die ersten US-Kampfpanzer vom Typ Abrams in der Ukraine befinden.

ATACMS sind bodengestützte ballistische Kurzstreckenraketen, je nach Typ mit einer Reichweite von 165 bis 300 Kilometern. Damit kann jeder Ort in den besetzten Gebieten der Ukraine auf wenige Meter genau beschossen werden. Zum Vergleich: Die präzisionsgelenkten Boden-Boden-Raketen, über die Kiew bislang verfügt, fliegen nur 80 Kilometer weit. Die Storm-Shadow -Marschflugkörper aus Großbritannien sowie die baugleichen Scalp aus Frankreich, die von der Ukraine bereits eingesetzt werden, reichen zwar ähnlich weit wie ATACMS, doch auch ihre Stückzahl ist begrenzt - und ihre Einsatzweise unterscheidet sich stark von dem der neuen Waffen.

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"Sie sind unglaublich tödlich", sagt US-General Petraeus

Die USA haben sechs verschiedene ATACMS-Varianten entwickelt. Die Ukraine erhält wohl zunächst ältere ATACMS, aus den 1990ern stammende und später modernisierte Raketen. Sie sind mit Hunderten Bomblets bestückt, einer Submunition, die sich in der Luft verteilt. Dieser Raketentyp hat keine sonderlich hohe Durchschlagskraft gegen harte Ziele, verursacht aber großen Flächenschaden. Die ATACMS können ebenso gegen feindliche Truppen wie gegen elektronische Kriegsführungssysteme eingesetzt werden. Ihre Nutzung im Irak hat gezeigt, dass sie sowohl Radaranlagen als auch militärtaktisch wertvolle Flugabwehrsysteme höchst effektiv bekämpfen können. David Petraeus, der damalige Kommandeur der 101. US-Luftlandedivision im Irak und spätere Vier-Sterne-General sowie CIA-Direktor, berichtete über den ATACMS-Einsatz im Jahr 2003 im Irak: "Sie sind unglaublich tödlich und waren absolut verheerend gegen die Ziele, bei denen wir sie eingesetzt haben."

Während Storm Shadows von Flugzeugen abgefeuert werden, starten ATACMS von MLRS- oder Himars-Mehrfachraketenwerfern aus. Über beide Fahrzeuge verfügt die Ukraine bereits. Sie sind mobil, können nach einem Raketenabschuss schnell verlegt werden. Bislang ist es Russland nicht gelungen, auch nur einen einzigen dieser Raketenwerfer zu zerstören.

Besonders geeignet zur Zerstörung wichtiger beweglicher Ziele

Der größte Vorteil der ATACMS gegenüber Storm Shadows ist die geringe Zeit, die bis zum Treffen des Ziels vergeht. Bei Storm Shadows kann es von der Entscheidung, einen bestimmten Punkt anzugreifen, bis zum Einschlag zwei Stunden dauern, schreibt der britisch-kanadische Militäranalyst Colby Badhwar auf X (ehemals Twitter). Die Route des Marschflugkörpers müsse geplant werden, außerdem müsse das Flugzeug, das ihn abfeuert, erst einmal in die Luft und in eine frontnahe Position kommen, um die beste Reichweite zu erzielen. Storm Shadows erreichen außerdem keine Schallgeschwindigkeit.

Die Fahrzeuge, die ATACMS abfeuern können, befinden sich dagegen oft schon in der Nähe der Front. Sie können schießen, sobald sie die Zielkoordinaten erhalten haben. Die Raketen erreichen dreifache Schallgeschwindigkeit, je nach Lufttemperatur bis zu 3700 Kilometer pro Stunde, damit können sie ihr Ziel binnen weniger Minuten erreichen und sind von der feindlichen Luftverteidigung nur schwer abzuschießen.

Für Angriffe auf potenziell bewegliche Ziele sind ATACMS deshalb sehr gut geeignet. Dazu gehören mobile, bodengestützte Flugabwehrsysteme, mobile Kommandozentralen, feindliche Einheiten, die etwa gerade mit dem Verladen von Material beschäftigt sind, Systeme zur elektronischen Kriegsführung, mobile Artilleriesysteme oder auch Hubschrauber auf einem Flugplatz. Keine andere Munition bekämpft solche militärtaktisch extrem wertvollen Ziele in großer Entfernung effektiver. Ohne ATACMS kann die Ukraine solchen Zielen nur schwer beikommen.

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Und gerade auf der besetzten Krim gibt es eine Vielzahl dieser Ziele. Einige konnte die Ukraine mit Marschflugkörpern zerstören. So hat sie gerade in der Hafenstadt Sewastopol das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte schwer beschädigt, laut ukrainischen Angaben wurde dabei der Kommandeur der Schwarzmeerflotte, Admiral Wiktor Sokolow, getötet. Mit ATACMS könnten Kiews Streitkräfte die Intensität solcher Angriffe auf die strategisch wichtige Krim noch deutlich steigern. Vor der Lieferzusage der USA hatte Generalleutnant Ben Hodges, der frühere Oberkommandeur der US-Armee in Europa, sogar behauptet, durch die ATACMS würde die Krim für Russland "unhaltbar".

Gegen harte Ziele sind vor allem moderne ATACMS-Varianten mit großem Gefechtskopf nützlich. Diese Raketen dürfte die Ukraine aber noch nicht bekommen, sie bleibt hierbei wohl auf Storm Shadows oder Scalps angewiesen. Noch besser als die britischen Raketen sind allerdings die deutschen Marschflugkörper vom Typ Taurus gegen solche Ziele. Damit könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar die wichtige Krim-Brücke, die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet, zerstört werden. Nach der ATACMS-Zusage der USA wächst jetzt der Druck auf die deutsche Regierung, Taurus zu liefern.

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