Beim ersten Mal steckten sie noch in einer Plastiktüte: Flyer mit antisemitischen Karikaturen und Parolen; CDs, die neben Reden von Adolf Hitler auch die bekannter Holocaust-Leugner wie David Irving enthielten und diese als Dissidenten feierten. Golda Steinberg war schockiert, als sie das Propaganda-Material Anfang Mai im Berliner Gleisdreieck-Park direkt neben einem Spielplatz fand.
Zwei Wochen später lagen die Flyer und CDs dann schon offen da, säuberlich aufgefächert wie zum Verkauf. Die Cover der CDs waren sorgfältig designt, die Flyer laminiert. "Da hat sich jemand viel Arbeit gemacht", sagt Steinberg, die eigentlich anders heißt. Sie rätselte: Kommt das Material von muslimischen Antisemiten? Dafür sprach die Art der Karikaturen, die sehr an antisemitische Propaganda aus dem Iran erinnerte. Oder von Deutschen? Immerhin waren die Hetzschriften in feinstem Deutsch formuliert, mit deutlichem Bezug zur NS-Zeit. Steinberg erstattete Anzeige. "Eigentlich ist das ein Fall für den Verfassungsschutz", sagt sie.
Geschichten, wie sie die 56-jährige Kulturwissenschaftlerin in einem Café im Berliner Stadtteil Schöneberg erzählt, erleben zurzeit viele Juden in Berlin. Sie haben das Gefühl, dass die Situation für sie bedrohlicher wird. "Ich habe kurdische und türkische Nachbarn, mit denen ich mich gut verstehe. Die haben mir geraten, in der Öffentlichkeit keine jüdischen Symbole zu tragen", sagt Steinberg. Seitdem steckt ihre Kette mit dem Davidstern oft unter ihrem Pullover.
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405 antisemitische Vorfälle im Jahr 2015
Auch Benjamin Steinitz kennt diese Geschichten. Er leitet die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus" (Rias), die seit einem Jahr in enger Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen antisemitische Angriffe und Vorfälle aufzeichnet. Hintergrund ist, dass bei den allgemeinen Beratungsstellen für rassistische Übergriffe kaum antisemitische Vorfälle gemeldet wurden - obwohl Steinitz und seine Kollegen aus Gesprächen mit jüdischen Organisationen wussten, dass diese häufig vorkommen.
Für das Jahr 2015 ermittelte Rias 405 antisemitische Vorfälle in Berlin - von Pöbeleien in der S-Bahn über die Schändung von Gedenkstätten, antisemitische Schmierereien und Flyer bis hin zu handfesten Angriffen auf der Straße. Der Polizei waren nur 183 bekannt.
Die Lehramts-Studentin Jessica Brandt zum Beispiel wandte sich vor einem Jahr nicht an die Polizei, sondern an Rias, als sie Opfer eines antisemitischen Angriffs wurde. Auch sie will ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Die 28-Jährige ist als Tochter einer Jüdin in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Mit einem israelischen Freund traf sie sich in ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Wedding. "Wir wollten gemeinsam Hebräisch üben", sagt die 28-Jährige. In der Wohnung trug ihr Freund eine Kippa. "Auf der Straße nimmt er sie gewöhnlich ab, doch als wir schnell etwas beim Späti kaufen wollten, haben wir beide nicht daran gedacht." Eine Gruppe Männer beschimpfte sie und warf mit Bierflaschen. Eine davon traf Brandts Freund.
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Warum Juden häufig Angriffe nicht anzeigen
Danach versuchte Brandt ihn zu überreden, Anzeige zu erstatten. Der Israeli aber wollte nicht zur Polizei gehen. "Ich dachte, er hat Angst vor der Sprachbarriere, also habe ich ihm angeboten zu übersetzen", erzählt Brandt in einem Café im Prenzlauer Berg, unweit der Geschäftsstelle von Rias. Doch es blieb dabei: Der Freund wollte nicht zur Polizei. Auch sie selbst kennt die Hemmung, Übergriffe anzuzeigen - obwohl sie, die einen kleinen Davidstern ums Handgelenk und eine Kette mit hebräischen Schriftzeichen um den Hals trägt, Bedrohungen und Beleidigungen oft genug selbst erlebt.
Laut Benjamin Steinitz ist es unter Berliner Juden eher die Regel als die Ausnahme, Angriffe nicht zu melden. Dafür gebe es viele Gründe. "Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zum Beispiel erleben die Situation hier als besser als in ihren Herkunftsländern", erklärt er. Damals habe es staatlich organisierten Antisemitismus gegeben, nun wollten sie den gewonnenen Frieden in der neuen Heimat nicht stören, indem sie auf sich aufmerksam machen.
Zu diesen Einwanderern gehört auch Golda Steinberg. Sie ist in St. Petersburg aufgewachsen. "Damals war ich nicht religiös, es reichte, dass 'Jüdin' in meinem Pass stand", sagt sie. Erst als sie in den 90er Jahren nach Berlin kam, hat sie angefangen, jüdische Traditionen zu leben, in die Synagoge zu gehen.
"Für viele Menschen bin ich aber auf den ersten Blick einfach eine Russin", sagt sie, die mit deutlich hörbarem osteuropäischen Akzent spricht. Ein Vorteil? Irgendwie schon, irgendwie aber auch nicht. "In der Synagoge hat neulich sogar der Rabbi gesagt, dass man jüdische Symbole, die Kippa oder andere traditionelle Kleidung lieber nicht öffentlich tragen soll", sagt sie, "weil Selbstschutz eine der wichtigsten Regeln unserer Religion sei. Ich finde das traurig."
Die Sichtbarkeit sei auch für deutsche Juden ein ständiges Thema, ergänzt Steinitz. Sie erinnerten die Deutschen immer an die Verbrechen der Vergangenheit. "Sie wollen sich aber nicht als Minderheit sehen, sondern als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft", sagt Steinitz. Also verhielten sie sich unauffällig. Und, eine Sache, die sich direkt aus dem Holocaust ergebe: "Wenn sie in Deutschland schon als Jude auftreten wollen - dann ganz sicher nicht als Opfer."
Die Beratungsstelle beobachtet, dass die Betroffenen daher auf Antisemitismus eher mit Ausweichbewegungen reagieren als mit direkter Verteidigung. "Wenn zum Beispiel ein jüdischer Schüler Opfer eines antisemitischen Übergriffs wird, dann nehmen ihn die Eltern im Zweifel von der Schule und wechseln zu einer jüdischen Bildungseinrichtung."
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Die NS-Zeit? Ein Tabu
Jessica Brandt kennt diese komplexen Gefühle. "Meine Mutter hat früher immer gesagt, wir sollen vorsichtig sein, wem wir von unserer Herkunft erzählen." Jüdische Traditionen habe die Mutter nie gelebt, die eigene Herkunft nur wenigen Leuten offenbart. "Inzwischen engagiert sie sich sogar ehrenamtlich in einer christlichen Gemeinde", sagt Brandt.
Dieses Verhalten habe ihre Mutter wiederum von ihrer eigenen Mutter übernommen. Brandts Großmutter hat die NS-Zeit in Deutschland verbracht. "Wir wissen nicht, unter welchen Umständen und wie sie überlebt hat", sagt Brandt. "Diese Zeit in ihrem Leben ist ein richtiges Tabu in unserer Familie."
Brandt jedoch war neugierig auf ihre Herkunft. Als Teenager begann sie, offener damit umzugehen - und erlebte im Gegenzug Anfeindungen. Als sie vor vier Jahren für ihr Studium nach Berlin zog, hielt sie ihre jüdischen Wurzeln wieder für eine Weile geheim. "Ich wollte, dass Berlin für mich ein Neuanfang ist. Aber dann merkte ich, dass es Blödsinn ist." Inzwischen trägt sie ihren Schmuck wieder offen. Seit einiger Zeit hat sie einen israelischen Freund, den sie oft in seinem Heimatland besucht.
Beschimpfungen und politische Diskussionen
Mit dem Schmuck kamen allerdings auch die Beleidigungen. Wie neulich erst: Sie saß in der S-Bahn in einem Viererabteil mit einem ihrer Einschätzung nach deutschstämmigen Mann und zwei Männern, die Türkisch sprachen. "Der Deutsche hielt die Kette um meinen Hals für arabisch, und beschimpfte mich, dass es eine Schande sei, wenn deutsche Frauen sich mit Flüchtlingen abgeben." Sie habe erst nicht verstanden, was er von ihr wollte. Bis sich einer der türkischsprachigen Männer einschaltete und sagte: "Das ist überhaupt kein Arabisch. Die da ist eine Judenschlampe."
Brandt stand schnell auf und ging. Auf dem Weg nach draußen sah sie noch, wie sich der Deutsche an ein schwules Pärchen wandte und auch die beiden Männer beschimpfte. "Es kommt sehr häufig vor, dass solche Menschen den Streit regelrecht suchen", sagt sie. "Da geht es dann gegen alle, die anders sind: Schwule, Juden, Menschen mit dunkler Haut, Behinderte." Sie selbst versuche oft, die Vorfälle schnell zu vergessen. "Ich will mich nicht immer als Opfer sehen", sagt sie. "Ich fühle mich gar nicht als Angehöriger einer Minderheit, sondern so wie alle anderen."
Doch für viele andere sind Juden eben in erster Linie Juden - diese Erfahrung musste auch Golda Steinberg machen. Die Frau mit den langen, grauen Haaren, die viel in Künstlerkreisen unterwegs ist, berichtet, dass sie sich ständig für die Politik Israels rechtfertigen muss. "Viele Leute, die sich als links betrachten, stehen sehr auf der Seite der Palästinenser", sagt sie. "Zwar würde von diesen Menschen niemand den Holocaust leugnen. Aber sie sind sich dennoch einig, dass im Nahost-Konflikt Israel an allem schuld ist."
Ähnliche Situationen kennt auch Jessica Brandt. "Schon als Teenager musste ich mich ständig zur israelischen Politik äußern, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Mal in Israel war", sagt sie. "Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass die israelische Politik vollkommen richtig ist. Aber auch die andere Seite macht Fehler." Sie begegne jedoch an der Uni immer wieder Menschen, die alles Schwarz-Weiß sehen.
Die Auswirkungen des Gaza-Kriegs
Der Nahostkonflikt spielt auch in der Arbeit von Benjamin Steinitz eine große Rolle - für die Gründung der Meldestelle Rias war er sogar einer der Auslöser. "2014 gab es vor dem Hintergrund des Gazakrieges viele anti-israelische Demonstrationen und auch Angriffe auf jüdische Menschen und Synagogen in Deutschland", sagt er. Er befragte damals in Berlin lebende Juden, wie sie die Situation wahrnahmen. Und fasst deren Empfinden mit einem Satz zusammen: "Wir stehen alleine da."
Als es 2001 einen Anschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge gegeben habe, hätten 150 000 Menschen auf Berlins Straßen gegen Antisemitismus protestiert. Auch 2014 habe es wieder Anschläge gegeben. Doch zu der Demonstration "Steh auf gegen Judenhass" vor dem Brandenburger Tor kamen nur etwa 5000 Menschen, die meisten von ihnen Juden, die extra aus dem ganzen Bundesgebiet angereist waren. "So etwas registrieren die Menschen genau", sagt Steinitz.
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"Die Hemmungen gegen Minderheiten fallen gerade"
In der Gegenwart sei es die Flüchtlingssituation, die vielen Juden Sorgen mache. Sie befürchten, dass viele der muslimischen Einwanderer ihren in den Herkunftsländern erlernten Antisemitismus mit nach Deutschland brächten. Wie den beiden Frauen ist es Steinitz jedoch wichtig zu betonen, dass Antisemitismus nicht erst mit Muslimen nach Deutschland kam - er war schon immer da, geht von Deutschstämmigen ebenso aus wie von Muslimen.
Im Zuge des Flüchtlingsstroms, so erklärt es Steinitz, sei es jedoch zusätzlich zu einer rechten Mobilisierung gekommen. "Neulich bin ich hier einer Gruppe Neonazis auf dem Heimweg von einer Demo begegnet", erzählt zum Beispiel Jessica Brandt und zeigt aus dem Fenster des Cafés auf die S-Bahnhaltestelle Schönhauser Allee, "da wechsele ich sofort die Straßenseite."
"Die Hemmungen gegen Minderheiten fallen gerade - und das bekommen auch Juden vermehrt zu spüren", beobachtet Steinitz. Sei es durch eine Verwechslung, wie sie Jessica Brandt mit ihrer vermeintlich arabischen Kette passiert ist. Oder weil Menschen im derzeitigen gesellschaftlichen Klima keine Notwendigkeit mehr sehen, ihre Vorurteile zu verstecken - egal, ob sie sich gegen Muslime, Juden oder andere Gruppen richteten. Antisemitismus und anti-muslimische Ressentiments liegen manchmal näher, als es auf den ersten Blick scheint.