Antisemitische Aufkleber:"Die Wohnungsnot ist Schuld der Juden"

Mitten in der Flüchtlingsdebatte erinnert eine Berliner Ausstellung daran, dass rassistische Hetze im öffentlichen Raum Tradition hat. Die Sprüche von heute sind teils dieselben wie die der Nazis.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

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Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: Deutsches Historisches Museum

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Dass in Deutschland kurz nach dem Ende des Holocaust schon wieder Geschäfte mit antisemitischen Aufschriften verschandelt wurden, ist heute kaum noch vorstellbar. Und doch war es so. Im April 1948 wurden der Münchner Polizei Pappschilder an diversen Gaststätten angezeigt. Darauf zu lesen: "6 Millionen Schmarotzer wurden vertilgt. Dennoch stellen wir fest: 6 Millionen Juden wurden zu wenig vergast!"

Ausgegraben haben die Polizeiakten und das Pappschild die Macher der Ausstellung "Angezettelt" im Deutschen Historischen Museum Berlin, die am Montagabend eröffnet wurde. Aus aktuellem Anlass: Auch heute finden sich wieder Aufkleber mit rassistischen Parolen an Flüchtlingsheimen und sozialen Brennpunkten - aber auch in den reichsten Gegenden Deutschlands, wie die Ausstellung zeigt.

NS-Boykottaktion gegen die Geschäfte jüdischer Inhaber.; Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: bpk

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Rund 600 Exponate sind hier zu sehen, vor allem Originale und Reproduktionen von Aufklebern mit antisemitischem oder rassistischem Inhalt. Und zwar von 1880 bis heute - die jüngsten Exemplare stammen aus dem April 2016.

Die meisten Aufkleber dokumentieren den Judenhass im Dritten Reich, wie etwa die berühmte Aufforderung "Deutsche, kauft nicht bei Juden" (im Bild: 1. April 1933 in Berlin). Dass aber unbekanntere Gemeinheiten in teils kaum veränderter Form bis in die deutsche Gegenwart überlebt haben, veranschaulicht die Schau eindrucksvoll und genau das macht ihren pädagogischen Wert aus. Da ist etwa eine gefälschte Fahrkarte aus dem Jahr 1893 zu sehen, die das Ziel ausweist: "Jerusalem - hin aber nicht zurück!". Ganz ähnlich, nur drucktechnisch ausgefeilter, sahen Tickets aus, die die NPD im Berliner Wahlkampf 2011 an Erstwähler aus Bezirken mit hohem Migrantenanteil verschickte: "Rückflugticket - Ab Deutschland - Ziel Heimat - One-Way", zur "Ausländerrückführung".

Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: Deutsches Historisches Museum

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Es ist das Verdienst der Ausstellung, die Parallele zwischen den Anfängen und Hochzeiten der Hetze bis heute zu zeigen, denn hier sieht der Besucher genau, wie sich die Feindbilder über die Jahrhunderte ähneln - obwohl sich die Adressaten ändern. Wurden früher die Juden etwa für Wohnungsnot verantwortlich gemacht, sind es heute vielerorts die Flüchtlinge.

Dass sich Rassismus heute gegen Antisemitismus positionieren kann, macht die Sache nicht einfacher und wird hier auch thematisiert. So wird von Islamfeinden etwa die Sorge geäußert, muslimische Flüchtlinge könnten den Judenhass wieder nach Deutschland importieren.

Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: Deutsches Historisches Museum

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Nicht zuletzt zeigt die Ausstellung: Hetze wurde und wird gerne anonym betrieben. Früher bevorzugt auf Aufklebern, auch "Spuckis" genannt, die anfangs die Sammelleidenschaft der Deutschen für etwa Briefmarken fortführte. Heute wird vor allem im Internet gehetzt - inzwischen nicht mal mehr unbedingt anonym.

Und nach wie vor werden auch Aufkleber zur Verbreitung rassistischen Gedankenguts genutzt. Wie in Hoyerswerda: Dort griffen Neonazis 1991 unter dem Beifall von Anwohnern ein Flüchtlingswohnheim an. 2014 wurde ein Mahnmal errichtet - das wiederum rassistisch beklebt wurde. Oder auf einem Klingelschild in Berlin, wo 2014 neben einen fremdländisch klingenden Namen ein Sticker mit der Aufschrift "Jetzt Grenzen setzen - Einwanderung stoppen!" geklebt wurde - mit dem Bild eines Zauns aus einem Konzentrationslager.

Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: The Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, London

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Gleichzeitig wird deutlich, dass sich gegen diese Hassschriften von Anfang an eine Gegenwehr formierte, die auch heute wieder stark ist.

Im Bild ist ein Sticker zu sehen, der die Hetzkampagne "Die Juden sind unser Unglück" in ihr Gegenteil zu verkehren suchte. Das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, das die Ausstellung unterstützt, hat gleich seine Klotür mitsamt Händetrockner zur Verfügung gestellt, beide voller Antifa-Aufkleber. Einen ganzen Aktenschrank mit rassistischen Aufklebern hat die 70-jährige Berliner Menschenrechtsaktivistin Irmela Mensah-Schramm zu bieten, die seit 30 Jahren Hetzschriften aus dem öffentlichen Raum mit Spachtel und Sprühdose entfernt.

Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: Deutsches Historisches Museum

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Vor allem aber fußt die Ausstellung auf der Sammlung des 92-jährigen Wolfgang Haney aus Berlin, der als 14-Jähriger sogenannter "Mischling" die Novemberpogrome miterlebte und seit dem Krieg Antisemitica sammelt - um die Erinnerung wachzuhalten.

Ihm verdanken die Besucher so auf den ersten Blick unverdächtige Zeitzeugen wie Liebesbriefe aus dem Dritten Reich, die es aber in sich hatten: Sogar die Aufkleber auf der Rückseite waren mit Hassbotschaften bedruckt. Gerne auch als Botschaft an die "reine" deutsche Frau, die sich vor dem übergriffigen Juden in Acht zu nehmen habe. Die politische Hetze durchbohrte alle Bereiche des alltäglichen Lebens - bis zum Aufdruck auf der "Qualitätswurst": "Mein Einkauf hat mit Juden nichts zu tun."

Ausstellung 'Angezettelt'

Quelle: dpa

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Eine solche Sammlung ist ein Glücksfall für die Ausstellungsmacher, wie auch DHM-Direktor Alexander Koch betont: "Die Ausstellung ist von erschreckender Aktualität, heute mehr denn je." Das Aufzeigen der historischen Perspektive mache deutlich, "dass Ausgrenzung in der BRD keinen Platz haben darf".

Die Macher hatten dann nur noch das Problem, angemessen darzustellen, was eigentlich niemand ausgestellt sehen möchte. Sie haben es gelöst, indem sie die Hassbotschaften deutlich in ihren Kontext einbetten, wo möglich die Gegenwehr abbilden - und im Ausstellungskatalog die Aufkleber teils über Eck abdruckten. Um keine Kopiervorlage für Neonazis zu schaffen. Und um die Vorlagen "nicht konsumierbar zu machen", wie Kuratorin Isabel Enzenbach erklärt.

Ausstellung "Angezettelt"

Quelle: Thomas Bruns

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Die Ausstellung ist ab sofort bis zum 31. Juli täglich von 10 bis 18 Uhr im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen. Es gibt ein breites pädagogisches und inklusives Programm. Weitere Infos hier.

© SZ.de/rus/cag/jobr
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