Es war eine Sondersitzung, die ihrem Namen alle Ehre machte. Anders als sonst gab es kein Presse-Statement der Fraktionsvorsitzenden vor Beginn der Versammlung. Anders als sonst durften Kameraleute keine Auftaktbilder im Fraktionssaal drehen. Anders als sonst durften keine Mitarbeiter der Abgeordneten an der Sitzung teilnehmen. Und anders als sonst begannen die Sozialdemokraten nicht um 15 Uhr, sondern mit mehr als einer Stunde Verspätung. Andrea Nahles, die Partei- und Fraktionsvorsitzende hatte mit ihrer Ankündigung vom Montagabend, die Neuwahl des Fraktionsvorsitzes vorziehen zu wollen, für Aufruhr in der SPD gesorgt - und für gesteigerten Redebedarf.
Zwei Fragen standen am Mittwoch im Mittelpunkt: Würde Nahles ihren Plan einer vorgezogenen Neuwahl überhaupt durchsetzen können? Und wenn ja: Würde bereits an diesem Tag jemand eine Gegenkandidatur anmelden? Einen ersten Erfolg erzielte Nahles in der Sitzung des Fraktionsvorstandes am frühen Nachmittag. Nach langer Debatte stimmten 19 von 31 Mitgliedern des Gremiums der vorgezogenen Neuwahl zu. Hätte Nahles nicht einmal ihr Verfahren durchsetzen können, wäre das ihrer vorzeitigen Entmachtung gleichgekommen, bevor es zu vorgezogenen Neuwahlen gekommen wäre.
Und die Herausforderer? Zwei potenzielle Kandidaten hatten bereits vor Beginn der Fraktionssitzung erklärt, dass sie nicht gegen Nahles antreten würden: zum einen Ex-Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz. Zum anderen Fraktionsvize Matthias Miersch, der dem linken Flügel zugerechnet wird und als profilierter Umweltpolitiker gilt. Achim Post, ein dritter Abgeordneter, dem Ambitionen nachgesagt werden, wollte sich auf dem Weg in den Fraktionssaal nicht äußern. Post ist Vorsitzender der nordrhein-westfälischen Landesgruppe. Würde er sich in der Fraktion erklären?
Nahles schilderte hinter verschlossenen Türen nach Angaben von Teilnehmern zunächst noch einmal ihren Entscheidungsprozess. Nach den Gremiensitzungen am Montag, in denen man sich in der Partei- und Fraktionsspitze der SPD eigentlich darauf verständigt hatte, keine Personaldiskussion zu führen, habe sie von dem Brief des Abgeordneten Michael Groß aus Recklinghausen erfahren. Dieser hatte eine Sondersitzung der Fraktion beantragt, um zu klären, ob die Vorsitzende noch den Rückhalt habe. Spiegel Online hatte als erstes über das Schreiben berichtet. Es sei klar gewesen, dass sie danach gefragt werden würde, sagte Nahles. Die SPD-Partei- und Fraktionschefin hatte sowohl in der ARD wie auch im ZDF Interviews in Sondersendungen zur Europa-Wahl und der Wahl in Bremen zugesagt. Sie habe vor ihren vereinbarten Auftritten im Fernsehen gerade mal eine halbe Stunde Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie sie reagieren wolle, so Nahles.
"Seit Wochen und Monaten ist hinter meinem Rücken meine Person in Frage gestellt worden"
Hätte sie die geforderte Klärung abgelehnt, so Nahles, wäre die SPD weiter mit der Diskussion befasst gewesen. Deshalb habe sie die vorgezogene Neuwahl der Fraktionsspitze angekündigt. Bereits "seit Wochen und Monaten ist hinter meinem Rücken meine Person in Frage gestellt worden", sagte sie in der Fraktionssitzung. "Ich glaube, viele im Raum wissen, von wem ich rede", fügte sie hinzu, ohne selbst Namen zu nennen. Zuletzt sei von einzelnen Abgeordneten ihr Rücktritt sogar öffentlich gefordert worden. Sie würde sich wünschen, diese Kollegen machten "während der Sitzung auch mal den Mund auf".
Es war dem Vernehmen nach die einzige Stelle, an der Nahles' Rede von Beifall unterbrochen wurde. Gemeint haben dürfte sie unter anderem Florian Post, einen Abgeordneten aus Bayern, Nahles' härtester Kritiker - und nicht zu verwechseln mit dem Nordrhein-Westfalen Achim Post. Der Bayer hatte auch kurz vor der Sitzung gegenüber Journalisten kein Hehl aus seiner Meinung gemacht. Es könne nicht sein, so Florian Post, dass Nahles Führungspositionen in der Partei einnehme, weil es "ihr Kindheitstraum" gewesen sei, und damit die Partei "in Geiselhaft" nehme.
Ohne eine Entscheidung über die Führungsfrage, so Nahles weiter in der Fraktionssitzung, wäre in den nächsten Wochen jede Äußerung von ihr "mit der Lupe untersucht" worden. "Das wollte ich nicht." Die Partei wäre mit ihren Themen nicht mehr durchgedrungen, so Nahles. Sie erinnerte an die in der großen Koalition ausstehende Entscheidung um die Grundrente, die in der von der SPD vorgeschlagenen Form von der Union bislang abgelehnt wird, sowie an die Wahlkämpfe in drei ostdeutschen Bundesländern. Mit der Entscheidung, die Neuwahl der Fraktionsspitze vorzuziehen, werde die Diskussion nun zwar eine Woche dauern, aber nicht die ganzen nächsten Monate.
Nahles sprach nach Teilnehmerangaben von einer "historisch kritischen Lage" der Partei. Es sei schon bisher sehr schwierig gewesen, die Fraktion zu führen und zusammenzuhalten, um Erfolge zu erzielen. Dies sei zwar gelungen. "Aber die Anstrengung war enorm", so Nahles. Man müsse das Vertrauen erneuern. Der Schlussapplaus für Nahles wurde als verhalten beschrieben.
Oppermann, Nahles' Vorgänger im Fraktionsvorsitz, ergriff zu ihren Gunsten das Wort
Erste Wortmeldungen verteilten sich auf bekannte Kritiker der Vorsitzenden, Florian Post sprach gleich als Zweiter, und auf bekannte Nahles-Unterstützer wie Fraktionsvize Karl Lauterbach. Auch Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann, Nahles' Vorgänger im Fraktionsvorsitz, ergriff zu ihren Gunsten das Wort. Martin Schulz legte Wert auf die Feststellung, nicht die Quelle der Berichte über ein vertrauliches Treffen mit Nahles in der vergangenen Woche gewesen zu sein. Diese Berichte hatten zu Spekulation geführt, Schulz wolle Nahles ablösen. Er habe offen mit Nahles gesprochen, so Schulz. Er wolle deshalb auch nicht mit dem früheren SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel verglichen werden, der seine Kritik vor allem über die Medien adressiert hatte.
Insgesamt gab es in der mehrere Stunden dauernden Sitzung rund 35 Wortmeldungen. Teilnehmer sagten, es habe ungefähr gleich viele Meldungen zugunsten von Nahles gegeben wie klare Forderungen nach ihrem Rücktritt. Zahlreiche Redner hätten ihre Position aber auch offen gelassen und allenfalls das Verfahren kritisiert. Achim Post meldete sich auch zu Wort, äußerte sich aber nicht zu einer Kandidatur.
Nahles kann somit zumindest einen Teilerfolg verbuchen. Unklar ist, ob sich bis zur Wahl in der Fraktionssitzung am Dienstag noch ein Gegenkandidat meldet. Manche Kritiker setzen offenbar darauf, dass Nahles wegen der schlechten Stimmung in der Fraktion und der nicht gerade überwältigenden Unterstützung für sie von sich aus den Platz an der Spitze räumt. Das könnte die Zahl potenzieller Kandidaten schlagartig in die Höhe schnellen lassen, weil man eine demonstrative Abwahl, wie sie die Unions-Fraktion im vergangenen Herbst beim Wechsel von Volker Kauder zu Ralph Brinkhaus erlebt hatte, vermeiden könnte. Am Ende der Sondersitzung sah es nach einem derartigen Rückzieher der SPD-Fraktionschefin allerdings nicht aus.