Die russische Justiz prüft weitere Strafsachen gegen den seit 2003 inhaftierten Kreml-Kritiker und früheren Oligarchen Michail Chodorkowskij, der eigentlich kommenden August freikommen sollte. Daraus könnten sich Justizverfahren entwickeln, sagte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Alexander Swjaginzow am Freitag laut der Nachrichtenagentur Interfax. Seinen Äußerungen war zu entnehmen, dass Chodorkowskij wohl nicht zu jenen gehört, die Präsident Wladimir Putin in diesem Jahr amnestieren will.
Bei dieser größten Amnestie seit 20 Jahren sollen noch vor Jahresende mehr als 30 000 Menschen Haft oder Strafverfolgung erlassen werden. Häftlinge, die nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen aus politischen Gründen von der russischen Justiz verfolgt werden, seien aber weitgehend ausgenommen, berichtet die Zeitung Kommersant.
Ziel sind vor allem Minderjährige und Frauen mit kleinen Kindern
Der Beschluss greift also weder für Chodorkowskij und seinen Geschäftspartner Platon Lebedew noch für die Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina. Die 30 Greenpeace-Aktivisten, die wegen der Besetzung einer Bohrinsel in der Arktis angeklagt, aber inzwischen gegen Kaution freigelassen wurden, können ebenfalls nicht auf die Amnestie hoffen. Lediglich acht der 28 Angeklagten oder bereits Verurteilten im sogenannten Bolotnaja-Prozess kommen möglicherweise frei.
Die Beschlussvorlage zielt laut dem Kommersant vor allem auf Minderjährige, Frauen mit kleinen Kindern, Schwangere, Menschen im Pensionsalter sowie Behinderte. Sie erstreckt sich auch auf Personen, die auf Bewährung verurteilt sind, gegen die Ermittlungen oder Gerichtsverfahren laufen. In russischen Lagern und Untersuchungsgefängnissen sitzen laut dem International Centre for Prison Studies derzeit 681 600 Häftlinge ein. Mit 475 Gefangenen auf 100 000 Einwohner steht Russland weltweit an zehnter Stelle. Ganz oben auf der Liste stehen die USA mit 716 Gefangenen auf 100 000 Bürger. In Deutschland sind es 79.
In dem Papier werden mehr als 110 Paragrafen aufgeführt, die von der Amnestie ausgenommen sind. Darunter auch der Tatbestand des "Rowdytums", nach dem Tolokonnikowa und Aljochina zu zwei Jahren Lager verurteilt wurden. Sie müssen demzufolge ihre volle Strafe bis März kommenden Jahres absitzen.
Rowdytum ist ebenfalls der Paragraf, nach dem die Teilnehmer der Greenpeace-Aktion vom September angeklagt sind. Er sieht bis zu sieben Jahren Haft vor. Auf der Ausschluss-Liste steht auch der Tatbestand der Unterschlagung, dessentwegen ein Gericht den Kreml-Gegner und Anti-Korruptions-Aktivisten Alexej Nawalny im Oktober in zweiter Instanz zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt hatte.
Medwedjew verteidigt Amnestie
Im September hatte Präsident Wladimir Putin Hoffnungen auf eine Freilassung der als "Gefangene des 6. Mai" bekannten Angeklagten genährt. Auf einer Konferenz erklärte er, er könne sich durchaus vorstellen, dass die angeklagten Teilnehmer der Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz am Vorabend seiner Amtseinführung 2012 unter eine Amnestie fallen. Bis auf acht Ausnahmen wird ihnen entweder "Aufruf zu Massenunruhen" oder "Gewalt gegen Staatsbedienstete" vorgeworfen. In dem von russischen wie internationalen Beobachtern gleichermaßen als politisch motiviert bewerteten Prozess wurden Zeugen der Verteidigung nicht gehört und entlastende Indizien ignoriert.
In einem TV-Interview verteidigte Premierminister Dmitrij Medwedjew am Freitag die Amnestie. "Bei solchen Entscheidungen darf man sich nicht nach Namen richten, sondern allein nach dem Grad und der Gefährlichkeit des Verbrechens", sagte er. Man dürfe eine Amnestie nicht mit einer Begnadigung verwechseln. "Warum denken wir nur an die, die im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, die das Glück hatten, auf den Bildschirmen zu erscheinen?" Politische Häftlinge gebe es in Russland heute nicht, erklärte der Premier. Amnesty International zählt etwa 70 politische Häftlinge in Russland.
In einem prominenten Fall greift die Amnestie möglicherweise doch: Anatolij Serdjukow war vor einem Jahr wegen Korruptionsvorwürfen als Verteidigungsminister abgesetzt worden. Weil er umgerechnet etwa 1,2 Millionen Euro aus dem Haushalt für den Bau einer Straße für private Zwecke verwendet haben soll, leiteten die Behörden vergangene Woche Ermittlungen wegen "Schlendrians" ein. Der Paragraf steht nicht auf der Ausschluss-Liste. Am Freitag wurde er offiziell angeklagt.