Afghanistan:Die neuen, alten Machthaber

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Auch nachdem die Taliban in Afghanistan die Kontrolle übernommen haben, gibt es bewaffneten Widerstand im Land, wie hier in der Provinz Pandschir. (Foto: Ahmad Sahel Arman/AFP)

In Kabul bilden die Taliban drei Wochen nach der Übernahme der Stadt eine neue Regierung - sie soll von einem ihrer Gründer geführt werden: Mullah Abdul Ghani Baradar. Doch viele Afghanen trauen den Islamisten nicht.

Von Tobias Matern, München

Die Regierung der Taliban nimmt Konturen an. Mullah Abdul Ghani Baradar wird Chef der neuen Regierung, das berichtete der Nachrichtensender Tolonews in Kabul unter Berufung auf mehrere Taliban-Quellen. Baradar war Vorsitzender des Doha-Büros der Taliban, das in den vergangenen Jahren als eine Art Außenministerium fungiert hat. Er ist einer der Gründer der Miliz und hat sich vor allem auf diplomatischem Parkett Ansehen verschafft: In den Verhandlungen mit den USA im vergangenen Jahr sorgte er federführend für einen Abzugstermin der Amerikaner - was den Durchmarsch der Taliban in Afghanistan und den Sturz der Regierung von Präsident Aschraf Ghani ermöglichte. In Peking wurde Baradar bereits kürzlich mit höchsten Ehren empfangen.

Auch der Sohn des gestorbenen Taliban-Gründers Mullah Omar, Mullah Mohammed Jakub, werde eine hochrangige Position in der Regierung einnehmen, sagten drei mit den Vorgängen vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. Aus Taliban-Kreisen verlautete weiter, die neue Regierung werde 25 Ministerien umfassen. Ihr werde zudem ein Beirat mit zwölf muslimischen Gelehrten zur Seite stehen.

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Binnen sechs bis acht Wochen soll eine traditionelle Große Ratsversammlung (Loja Dschirga) zusammenkommen, in der Vertreter der Regionen und der Zivilgesellschaft über eine Verfassung beraten sollen. Seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 hatten sich die Präsidenten Hamid Karsai und Ghani immer wieder in solchen Großen Ratsversammlungen das Mandat für Friedensgespräche mit den Taliban eingeholt. Doch die Islamisten waren wegen des angekündigten Abzugs des Westens so siegesgewiss, dass sie alle Avancen aus dem Präsidentenpalast kühl abgelehnt hatten.

Nur rhetorisch gemäßigter, bei der gleichen harten Linie?

Mehrere Quellen in Kabul hatten bereits am Donnerstag berichtet, der Präsidentenpalast werde nun für eine Einführungszeremonie der neuen Machthaber hergerichtet, aber bis Freitagabend hatte diese noch nicht begonnen. In der Zivilbevölkerung ist die Sorge groß, dass sich die Führungsebene im Vergleich zum Regime vor 20 Jahren zwar rhetorisch gemäßigter gebe, im Kern aber die gleiche harte Linie verfolgen werde wie damals. Ein Taliban-Sprecher hatte bekanntgeben, dass Musik im öffentlichen Raum verboten sein werde. Frauen dürften zwar weiter, anders als in der Vergangenheit, am öffentlichen Leben teilhaben, aber es brauche Zeit, um diese neue Realität auch den Fußsoldaten zu erklären. Allerdings berichtete eine Frau aus Herat der SZ, die Vertreter der Taliban hätten beim Freitagsgebet in der Moschee deutlich gemacht: Frauen haben in Büros nichts verloren. Es herrsche große Angst, sagte sie.

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Die internationale Gemeinschaft sucht nach einem angemessenen Umgang mit den Taliban, ohne der Zivilbevölkerung das Gefühl zu vermitteln, sie nach der gescheiterten 20-jährigen Militärmission und vielen gebrochenen Versprechen nun auch in punkto humanitärer Hilfe im Stich zu lassen. Das Land ist wirtschaftlich ausgezehrt, Dürren grassieren, es braucht dringend das Geld aus internationalen Töpfen.

Die Außenminister der EU-Staaten teilten am Freitag mit, es müssten fünf Bedingungen erfüllt sein für eine beschränkte Zusammenarbeit mit den Taliban. Das "operative Engagement" mit den neuen Machthabern soll demnach schrittweise hochgefahren werden, wenn die Taliban eine Regierung unter Einbindung auch von anderen politischen Kräften im Land bilden und die Ausreise von schutzbedürftigen Menschen ermöglichen. Zudem sollen sie die Einhaltung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit gewähren, humanitäre Hilfe ermöglichen und garantieren, dass Afghanistan nicht wieder zu einer Basis für international operierende Terrorgruppen wird.

US-Außenminister Antony Blinken will in den nächsten Tagen in Deutschland mit Außenminister Heiko Maas und Vertretern weiterer Länder über die Lage in Afghanistan beraten. Bei einem Besuch des europäischen US-Luftwaffenhauptquartiers in Ramstein in Rheinland-Pfalz sei auch eine Schaltkonferenz mit Ministern von mehr als 20 Ländern geplant, sagte Blinken am Freitag in Washington.

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Die neuen Machthaber versuchen seit der Machtübernahme in Kabul, die Botschaft zu vermitteln, dass sie sich im Vergleich zu ihrem Regime in den Jahren 1996 - 2001 gewandelt hätten. Frauen waren damals aus dem öffentlichen Leben verbannt, eine Religionspolizei drangsalierte jeden, der gegen die Islam-Auslegung der Taliban verstieß. Nur Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate unterhielten damals diplomatische Beziehungen zu den Islamisten. Bislang machen die westlichen Regierungen deutlich, dass sie sich gegen eine Zusammenarbeit mit den Taliban nicht grundsätzlich sperren, es aber noch zu früh sei für eine diplomatische Anerkennung.

Die Nordallianz leistet weiter Widerstand

Die Taliban haben es aber nicht geschafft, auch ihre einstigen Erzfeinde in die neue Ordnung einzubinden - Vertreter der ehemaligen Nordallianz. Zwei Männer führen den Widerstand gegen die Islamisten aus dem Pandschir-Tal unweit von Kabul an: Amrullah Saleh, Vizepräsident unter dem ins Ausland geflohenen Staatschef Aschraf Ghani, und Ahmad Massoud. Saleh ruft über die sozialen Netzwerke zum Kampf gegen die neuen Machthaber auf. Der zweite Anführer des Widerstands trägt einen berühmten Namen: Massoud ist der gleichnamige Sohn des "Löwen von Pandschir", der während des Taliban-Regimes die Provinz gegen die Islamisten verteidigt hatte. Zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September 2001 brachte ihn ein Al-Qaida-Selbstmordattentäter um.

Die politische Verbindung für Saleh und Massoud nach Kabul bestand vor allem über den alten Weggefährten Abdullah Abdullah, der sowohl in den Regierungen von Hamid Karsai als auch Aschraf Ghani hohe Posten innehatte. Nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban war er noch auf Fotos mit den Islamisten zu sehen gewesen, aber inzwischen stehe er unter Hausarrest, bestätigte ein Vertrauter Abdullahs der SZ am Freitag.

Ein Mitglied der Widerstandsbewegung berichtete der SZ, es habe Gespräche gegeben, in denen Massoud ein Sitz in der Taliban-Regierung angeboten worden sei. Doch die Islamisten hätten daran Bedingungen geknüpft, an denen die Gespräche gescheitert seien. Nun haben die Taliban eine Offensive auf das Pandschir-Tal gestartet, zu der es bislang keine unabhängigen Erkenntnisse gibt: Die Taliban behaupten, sie erzielten dort Landgewinne; aus dem Widerstand heißt es, alle Angriffe seien abgewehrt worden. Am Freitag behauptete ein Militärführer der Taliban, sie hätten das Tal erobert. Doch Salehs Sohn Ebadullah Saleh dementierte dies.

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