Im März hat in Afghanistan das neue Schuljahr begonnen, und es begann mit einem Schock. Eigentlich wollten die Taliban bis dahin eine Regelung gefunden haben, doch dann verkündeten sie eine Kehrtwende: Mädchen dürfen weiter ab der 7. Klasse nicht mehr in die Klassenzimmer. Es müsse noch eine Lösung im Einklang mit dem Islam gefunden werden, teilten die Extremisten mit. Seitdem macht sich Verzweiflung breit bei den Schülerinnen. "Ist es etwa ein Verbrechen, ein Mädchen zu sein?", sagt eine 13-Jährige aus Kabul der SZ. Sie möchte ihren Namen nicht nennen, aus Sorge vor Repressalien. Wie ihre Freundinnen fühlt sie sich vor den Kopf gestoßen: "Ich kann meine Gefühle kaum noch zum Ausdruck bringen."
Für Frauen und Mädchen hat der Machtwechsel im August, als die Taliban nach dem Abzug der letzten westlichen Truppen die Regierung von Präsident Aschraf Ghani stürzten, alte Traumata aufgerissen: Viele fühlen sich wieder wie Menschen zweiter Klasse. Schon einmal, von 1996 bis 2001, regierten die Islamisten in Kabul. Damals verbannten sie Frauen vollständig aus der Öffentlichkeit.
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Zwar haben 20 Jahre westlicher Einsatz den Afghaninnen einen Wandel gebracht, doch die Taliban drehen die vorsichtige Liberalisierung nun zurück. Eine Analyse des Afghanistan Analysts Network kommt zu dem Schluss, dass das Schulverbot für ältere Mädchen wohl weniger mit religiöser Überzeugung der Taliban-Hardliner als mit internen Machtkämpfen zu tun hat.
Für Rangina Hamidi, die bis August in Kabul Bildungsministerin war, ist der Grund zweitrangig, der Schritt sei eine Katastrophe. "Die Weltgemeinschaft hat den Mädchen ihre Hoffnungen genommen, als sie den Boden bereitet hat für die Rückkehr der Taliban", schreibt Hamidi der SZ per Textnachricht aus dem Exil in den USA. "Die Anführer der Weltgemeinschaft tragen genau wie die Taliban die Verantwortung, dass die Träume der Mädchen nun zerstört werden." Nun fehle es an Mitteln und dem politischen Willen aus dem Ausland, die Lage zu ändern.
"Die Taliban können gut kämpfen, aber ein Land regieren können sie nicht."
Als erste westliche Politikerin nach der Machtübernahme der Taliban ist die Europaabgeordnete Hannah Neumann nun nach Afghanistan gereist, um neben Aktivistinnen, Journalisten und Menschenrechtlern auch Regierungsvertreter zu treffen. So forderte sie Bildungsminister Noorullah Munir auf, Mädchen wieder in die Schulen zu lassen und insgesamt mehr gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen. "Die Taliban können gut kämpfen, aber ein Land regieren können sie nicht", sagt die Grüne und berichtet der SZ von "zunehmend chaotischen Zuständen".
Von Dialog mit der Bevölkerung oder Koordination unter den Ministerien sei nichts zu sehen, so Neumann. Auch ein Staatshaushalt existiert bisher nicht. Bewusst würden Vorschriften kaum schriftlich festgehalten, was die Bevölkerung verunsichert. Universitätsdozentinnen berichten, jeden Tag damit rechnen zu müssen, dass ihre Stellen gestrichen werden und andere Regeln gelten würden - etwa was die männlichen Begleiter angeht, die alle Frauen haben müssen. "Dies kostet enorm viel Kraft, zumal aktuell kaum Besserung in Sicht ist", sagt die EU-Abgeordnete.
Das Problem der Korruption sei weiter nicht gelöst, auch bei anderen Versprechen könnten die Taliban nicht liefern. "Es wirkt mittlerweile, als würden sie vor ihrer Bevölkerung davonlaufen", bilanziert Neumann ihre viertägige Reise, die mit der EU-Vertretung in Kabul organisiert wurde. Während kein Mitgliedsland eine Botschaft wiedereröffnet hat, so ist die EU in der Hauptstadt mit einem Büro präsent, um Kontakt zu den Taliban wie zu Nichtregierungsorganisationen oder Aktivisten zu halten.
Mit ihrem Besuch wollte Neumann, die bereits das Exilparlament von 29 weiblichen afghanischen Abgeordneten in Athen besucht hat, auch ein Zeichen der Solidarität setzen, dass nicht nur Stimmen aus der Diaspora gehört würden. Die Botschaft aller Gesprächspartner aus der Zivilgesellschaft sei gewesen: "Bitte vergesst uns nicht!" Durch Russlands Krieg gegen die Ukraine sei Afghanistan noch mehr aus den Schlagzeilen verdrängt worden, dabei müsse der Westen genau hinsehen, was im Land passiert - ganz abgesehen von den Folgen der befürchteten globalen Nahrungsmittelknappheit.
Neumann traf sich auch mit Afghaninnen, die sich leitende Positionen in Ministerien erarbeitet hatten, und nun zu Hause sitzen. Sie wollen weiter kämpfen, damit das Erreichte nicht verloren geht - trotz aller Gefahren. "Die Frauen können mit dem Risiko für sich umgehen, aber die Taliban bedrohen auch gezielt Familienangehörige", sagt die Grüne. Wie brutal die Taliban gegen Kritiker vorgehen, zeigt eine aktuelle Recherche der New York Times : Demnach sind seit August 2021 fast 500 Angehörige der früheren Regierung beziehungsweise der Sicherheitskräfte ermordet oder verschleppt worden.
China versuche bereits, Zugang zu Ressourcen zu sichern
Neumann will nun in Brüssel dafür werben, Afghanistan nicht aus dem Blick zu verlieren. China habe die Taliban anerkannt und versuche bereits, sich Zugang zu Rohstoffen und Seltenen Erden zu sichern. "Es besteht das Risiko, dass die Taliban quasi das Land ausverkaufen, um schnell an Geld zu kommen", sagt die Grüne. Für die EU bleibe es sehr wichtig, genau zu kontrollieren, wofür die zugesagten Hilfsgelder ausgegeben werden.
Gerade im Bildungsbereich hatte der Westen bis August 2021 massive Finanzhilfe geleistet. Nach der Entscheidung der Taliban, die Schulen für Mädchen ab dem Alter von zwölf Jahren geschlossen zu lassen, gab es zwar vereinzelte Demonstrationen in Kabul und anderen Großstädten, doch eine landesweite Bewegung hat sich gegen die Taliban noch nicht gebildet. Dabei ist der Unmut der Eltern und Kinder groß.
Neumann berichtet, dass zahlreiche reformorientierte Taliban arbeitslose Lehrerinnen eingestellt haben, damit diese ihre Töchter zu Hause unterrichten. "An der alten Garde ist vorübergegangen, wie sehr sich das Land in den vergangenen 20 Jahren verändert hat", sagt die Abgeordnete. Das Thema habe "Sprengpotenzial" für die Regierung in Kabul. Für Lehrerinnen und Lehrer bleibt die Lage prekär: Viele haben seit August kein Gehalt mehr erhalten. Zudem, so schreibt eine Pädagogin der SZ, werde der seit 2001 erarbeitete, mühsame Fortschritt nun "definitiv ausgelöscht".