Streit um Bundestagsvizepräsidenten:Nachhilfe aus Karlsruhe

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Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht mit den Richtern und Richterinnen Peter Müller, Doris König, Peter M. Huber, Sibylle Kessal-Wulf und Christine Langenfeld (von links) geben die Entscheidung zur Klage der AfD bekannt. (Foto: Uli Deck/dpa)

Es klingt wie ein Grundkurs in Demokratie, was die Karlsruher Richter erklären: Ohne Mehrheit der Abgeordnetenstimmen hat keine Partei Anspruch auf den Sitz im Parlamentspräsidium.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag im Jahr 2017 schwelt der Streit, ob die Fraktion Anspruch auf das Amt des Bundestagsvizepräsidenten hat. Kandidaten der Fraktion sind reihenweise an der Bundestagsmehrheit gescheitert, auch in der neuen Legislaturperiode konnte sich keiner ihrer Vorschläge durchsetzen. Sie klagte vor dem Bundesverfassungsgericht, was sie gern und häufig tut. An diesem Dienstag beendete das Gericht den Dauerkonflikt: Die Organklage der AfD-Fraktion wurde abgewiesen.

Entzündet hatte sich die Klage an den zugegebenermaßen nicht sonderlich klaren Regeln der Geschäftsordnung des Bundestags. Dort heißt es einerseits: "Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten." Das klingt mindestens nach der Feststellung einer Tatsache, wenn nicht sogar nach einem Anspruch. Allerdings heißt es in derselben Geschäftsordnung: "Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags erhält." Das ist das genaue Gegenteil eines einklagbaren Anspruchs.

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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts - als Berichterstatter zuständig war Peter Müller - gesteht der AfD-Fraktion zwar ein Recht auf "formal gleiche Mitwirkung" an der parlamentarischen Willensbildung zu. "Dieses Recht gilt dem Grundsatz nach auch für den Zugang zum Präsidium des Deutschen Bundestags." Aber wer die Juristensprache kennt, der weiß, dass - wenn vom "Grundsatz" die Rede ist - meist eine Relativierung folgt. So ist es auch der AfD ergangen. Das Recht zur "gleichberechtigten Berücksichtigung" bei der Kür der Stellvertreter hat sozusagen einen demokratischen Haken: Es stehe unter dem "Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten".

Eine "innere Angelegenheit des Parlaments", die dieses autonom regeln kann

Das steht im Übrigen sogar im Grundgesetz. Nach Artikel 40 "wählt" der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Wählen heißt manchmal eben auch Neinsagen. Oder wie es das Bundesverfassungsgericht ausdrückt: "Mit einer freien Wahl im Sinne des Artikel 40 Absatz 1 wäre es unvereinbar, wenn eine Fraktion ein Recht auf ein bestimmtes Wahlergebnis hätte."

Der Beschluss klingt also ein wenig nach Grundkurs Demokratie. Auch der AfD-Fraktion schien freilich klar zu sein, dass sie, da nun mal gewählt wird, in Karlsruhe keinen Automatismus in Sachen Vize würde durchsetzen können. Sie pochte vielmehr auf verfahrensmäßige Vorkehrungen, damit ihre Kandidaten nicht "aus sachwidrigen Gründen" abgelehnt würden. Der Bundestag müsse der Blockade durch "ein formelles oder informelles Verfahren" entgegenwirken.

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Dabei ist der Umgang mit Minderheitenrechten im Parlament indes keineswegs trivial. Das Bundesverfassungsgericht sah sich stets als Parlamentsschiedsrichter, der keine automatische Vorfahrt für die Mehrheit akzeptiert. Bei der Ausgestaltung der Wahl der Präsidentin und der Stellvertreter geht es aus Karlsruher Sicht allerdings um eine "innere Angelegenheit des Parlaments", die dieses autonom regeln könnte.

Die wirkliche Entscheidung des Tages erfolgt schriftlich

Das wird auch in einer zweiten, am Dienstag verkündeten Entscheidung zum Vizestreit deutlich. 2019 hatte der AfD-Abgeordnete Fabian Jacobi einen Solovorstoß unternommen: Er schlug in eigener Hoheit einen Vizekandidaten vor, doch darüber wurde nicht einmal abgestimmt. Seine Klage scheiterte nun ebenfalls. Vorschlagsrechte einzelner Abgeordneter hält das Gericht zwar grundsätzlich für denkbar. Wenn der Bundestag aber entscheide, dass allein Fraktionen die Kandidaten fürs Präsidium benennen dürfe, dann halte sich dies im Rahmen seiner Autonomie. Das Parlament dürfte sich selbst so organisieren, dass es seine Aufgaben effektiv erfüllen könne. Hier stehe ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu.

Es war übrigens dieses zweite, eher akademisch anmutende Verfahren, über das das Gericht im November mündlich verhandelt hatte und dessen Ergebnis nun öffentlich verkündet wurde. Es war also eine große Bühne für ein kleineres Problem, sogar die Kameras waren da. Die wirklich wichtige Entscheidung des Tages zur Klage der AfD-Fraktion folgte zwei Stunden später auf schriftlichem Weg. Eine mündliche Auseinandersetzung damit hielt das Gericht nicht für angezeigt - die Klage sei "offensichtlich unbegründet".

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