Die SPD hat gefeiert, sie hat sich an ihre große Geschichte erinnert, vor der man sich in Respekt und, ja auch das, in Ehrfurcht verneigen darf. Zur Geschichte dieser Partei gehört die internationale Solidarität der Arbeiter, zu dieser Geschichte gehören die alten Lieder darüber. Das bekannteste dieser Lieder beginnt mit der Zeile "Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!" Es ist dies, 1871 geschrieben, die Klage der Arbeiter über Hunger, Ausbeutung und Elend; und es reimt sich dort auf das "letzte Gefecht" der Kampf um "das Menschenrecht".
Man hört sich heute so ein Lied, je nachdem, wie man weltanschaulich gestimmt ist, nostalgisch lächelnd oder verdrießlich grinsend an. Konservative stimmen das Lied, wenn sie besonders ausgelassen sind, schmetternd an, im Bewusstsein, wie verblichen das alles ist. Nostalgie und Grinserei vergehen einem schnell, wenn man das Lied aus dem 19. Jahrhundert löst und ins 21. Jahrhundert stellt. Die Verdammten dieser Erde - es sind heute die Flüchtlinge. Sie fliehen vor Bürgerkrieg und Folter, vor Hunger und absoluter Armut; ausgeschlossen aus der Welt, in der ein Fünftel der Weltbevölkerung vier Fünftel aller Reichtümer verbraucht, lockt sie die Sehnsucht nach einem Leben, das wenigstens ein wenig besser ist.
Die Ausgeschlossenen drücken sich an die Schaufenster, hinter denen die Verprasser des Reichtums der Erde sitzen.
Das Mittelmeer, ein Friedhof der Menschenrechte
Die Europäische Union versucht, das Gedrängel zu den Schaufenstern zu stoppen. Sie sichert ihre Grenzen mit einem Netz von Radaranlagen und Satelliten; mit Hubschraubern und Schiffen, die die Flüchtlingsboote abdrängen; mit einer Grenzschutzagentur, die Frontex heißt; und mit einer gewaltigen Mauer aus Paragrafen. Dort, wo das afrikanische Elend und der "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", wie sich Europa selbst nennt, aneinanderstoßen, in Spaniens nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla, gibt es auch Mauern, Mauern aus Stacheldraht. Manchmal bleibt daran ein Stück Flüchtling hängen; der Rest des Flüchtlings ertrinkt dann im Mittelmeer.
Das Mittelmeer ist ein Friedhof, ein Friedhof auch der Menschenrechte. Die Flüchtlinge fliehen, weil sie nicht krepieren wollen; sie werden behandelt wie Einbrecher, man schützt sich vor ihnen wie vor Terroristen. Europa schützt seine Grenzen, aber nicht die Flüchtlinge.
"Wir wählen die Freiheit": Das war einst der Wahlspruch des ersten deutschen Kanzlers Konrad Adenauer. Der Wahlspruch der Flüchtlinge von heute ist das auch. Die deutsche Politik hat auf diesen Wahlspruch vor genau 20 Jahren mit der Änderung des Asylgrundrechts geantwortet - um Flüchtlingen den Weg nach Deutschland radikal zu versperren. Am 26. Mai 1993 wurde im Deutschen Bundestag zum ersten Mal ein Grundrecht, das Asylgrundrecht, geändert. Nein, Änderung ist falsch. Es wurde nicht geändert, es wurde faktisch abgeschafft. Aus dem alten stabilen Grundrecht des Artikels 16 Absatz 2 wurde Artikel 16 a, ein Grundrechtlein. Die aus leidvoller NS-Geschichte geborene kompromisslose Schutzgarantie wurde gestrichen und an seine Stelle eine seitenlang-quallige, ins Grundgesetz deplatzierte Verwaltungsverordnung gesetzt; aus der Asylgarantie wurde eine Abschiebungsgarantie. Und dieser Anti-Asyl-Mechanismus, den der Bundestag vor zwanzig Jahren nach jahrelangem beschämenden und brandgefährlichen Streit beschloss, wurde sodann, auf deutsches Betreiben, zum Vorbild für die EU.