Kampf um Chancengleichheit:"Die Radikalisierung beginnt meist in abgehängten Regionen"

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Landgemeinde Loitz in Mecklenburg-Vorpommern: In immer mehr Ministerien setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Staat lange zu wenig getan hat, um die Lebensverhältnisse zu verbessern. (Foto: imago/Fotoagentur Nordlicht)

Boomende Städte, zurückfallende Dörfer: Die Bundesregierung will sich um abgehängte Landstriche kümmern und bis 2030 Infrastruktur und Arbeitsmarkt verbessern - mit Behördenjobs, schnellem Internet und Finanzhilfen.

Von Markus Balser und Stefan Braun

Am Anfang stand ein schockierendes Wahlergebnis und ein großes Versprechen. Nach dem Einzug der AfD in den Bundestag im September 2017 kündigten Union und SPD im Koalitionsvertrag an, sie wollten alles dafür tun, die Spaltung des Landes zu beenden und Gräben zu schließen. Das Ziel: endlich gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Nun soll aus dem Versprechen ein Plan werden. An diesem Mittwoch wollen die Minister Franziska Giffey (Familie), Julia Klöckner (Landwirtschaft) und Horst Seehofer (Innen) ihre Blaupause für den Kampf um gleiche Lebenschancen in ganz Deutschland vorstellen.

Glaubt man dem, was aus den vertraulichen Ministerrunden nach draußen dringt, geht es um einen Paradigmenwechsel im Umgang mit abgehängten Regionen. Die zentrale Botschaft heißt: Wo es der Markt nicht richtet, muss die Politik künftig viel stärker eingreifen. Stillgelegte Schienenwege, miserables Mobilfunknetz, mühsamer Anschluss ans Internet - das sind nur drei Felder von insgesamt zwölf, in denen die Bundesregierung dramatische Lücken schließen möchte. Von einer "neuen Wirtschaftsstrukturpolitik" ist die Rede, von einem Bruch mit dem Glauben, dass die Marktwirtschaft überall die besten Lösungen parat hat. Und vom "größten Kraftakt seit der Wiedervereinigung".

Regierungskommission
:Erhebliche Ungleichheiten zwischen deutschen Regionen

Einkommen, Verkehr, Mobilfunk: Der Bericht einer von der Bundesregierung eingesetzten Kommission zeigt, wie unterschiedlich die Lebensverhältnisse in den Regionen Deutschlands sind.

"Man kann öffentliche Daseinsvorsorge nicht privatisieren."

In immer mehr Ministerien setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Staat lange zu wenig getan hat. "Man kann öffentliche Daseinsvorsorge nicht privatisieren; der Staat muss sie garantieren. Sonst droht ein politischer Vertrauensverlust, den wir nicht mehr ausgleichen könnten", heißt es aus einem der beteiligten Ressorts. Von der Angst vor einem regelrechten Bruch in der Gesellschaft angesichts dieses Versäumnisses ist die Rede. "Man muss sich nur in Europa umschauen, um zu sehen, um was es geht: Die Radikalisierung beginnt meist in abgehängten Regionen", warnt Agrarministerin Klöckner. Regionale Unterschiede dürften sich nicht in Nachteile verwandeln, fordert die CDU-Politikerin: "Das Leben auf dem Land etwa darf nicht 'gefährlicher' sein als das Leben in der Stadt, weil zum Beispiel kein Arzt mehr in der Nähe ist."

Wie groß die Veränderungen werden könnten, zeigen drei Beispiele. Zum einen wollen die drei Ministerien in all jenen Regionen Deutschlands, in denen die privaten Mobilfunkunternehmen eine volle Netzversorgung als unwirtschaftlich ablehnen, mit einer eigenen Infrastrukturgesellschaft selbst Masten und Netze betreiben. Das Kabinett wird für diesen Plan einen "Prüfauftrag" beschließen. Doch nach Angaben aus Regierungskreisen gilt es als sicher, dass die Gesellschaft kommt. Nur auf diese Weise, so lautet inzwischen die Überzeugung der Regierung, sei wirklich eine flächendeckend gute Versorgung sicherzustellen. Die ist nicht nur für Bürger und Unternehmen längst unverzichtbar. Auch Zukunftstechnologien wie autonom fahrende Autos, ein digitales Bahnnetz oder medizinische Anwendungen setzen gute Verbindungen voraus.

In den Ministerien wächst angesichts rasanter Veränderungen im Land und des wachsenden Frusts in strukturschwachen Regionen die Angst vor einer Quittung bei den nächsten Landtagswahlen - und darüber hinaus. Anfang September werden in Sachsen und Brandenburg, Ende Oktober in Thüringen neue Landtage gewählt. In Sachsen und Brandenburg könnte die AfD stärkste Kraft werden, in Thüringen schneidet sie ebenfalls stark ab. In der Regierung gelte inzwischen als sicher, dass die unterschiedlichen Lebensverhältnisse sich zu einem gefährlichen Sprengsatz entwickeln könnten, heißt es weiter.

Denn die Kluft wird immer größer. Deutschland wächst und schrumpft gleichzeitig - je nach Region. Und zwar in hohem Tempo. Oft liegen gerade einmal 50 Kilometer zwischen Boom und Brache. Während die Bevölkerung der Großstädte zwischen 2005 und 2015 um 1,4 Millionen Einwohner wuchs, sind mehr als 50 Prozent der Kleinstädte geschrumpft. Dort leben noch 15 Millionen Deutsche.

Doch auch ländliche Regionen entwickeln sich sehr unterschiedlich. Ost und West ist nicht der einzige Unterschied. Auch zwischen Nord und Süd werden die Ungleichheiten immer größer. Und so muss die Regierung zur selben Zeit gegen Rekordmieten und wachsenden Leerstand kämpfen. Das Versprechen des Grundgesetzes, "gleichwertige Lebensverhältnisse" zu schaffen, wird ohne Eingriffe der Politik immer schwieriger. Zur zentralen Frage wird, wie auf dem Land mehr Jobs entstehen. Denn solange Stellenanzeigen Arbeit nur in den ohnehin boomenden Regionen versprechen, sind neue Abwanderungen eine Frage der Zeit. Ein zweiter Schwerpunkt des Plans betrifft deshalb die Verlagerung von Bundesinstitutionen in ohnehin strukturschwache Regionen. So wird vor allem das Bundesinnenministerium künftig verstärkt Außenstellen seiner großen Behörden wie des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) oder auch der Polizei nicht mehr in Großstädten platzieren, sondern dorthin, wo Arbeitsplätze rar sind. So hatte Innenminister Seehofer gerade beim BSI beschlossen, Vorschläge aus dem eigenen Haus für Außenstellen in den größten Städten zu verwerfen, und eine neue Niederlassung in Halle zu errichten. Das Kalkül: Den Behörden könnten Unternehmen oder auch Forschungseinrichtungen folgen.

Auch in Zeiten guter Konjunktur vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich

Erstaunen und Erleichterung löst bei betroffenen Gemeinden ein drittes zentrales Vorhaben aus. Der Bund, der für Finanzhilfen bislang immer die Länder in die Pflicht nahm, will überschuldeten Kommunen helfen. So haben die drei federführenden Ministerien vorgeschlagen, die 2000 finanzschwächsten Kommunen von ihren Altschulden zu entlasten, um ihnen wieder einen größeren finanziellen Spielraum für eine Gestaltung ihrer Kommunen zu geben. Dies ergibt sich auch aus dem Grundkonzept der Initiative: Nach den Vorstellungen von Seehofer, Giffey und Klöckner soll der Bund nicht einfach Milliarden versprechen und ausschütten, sondern die Kommunen animieren, selbst neu zu denken und mitzumachen. Es reiche nicht, wie bisher nur die Lücken zu stopfen. Das erzeuge keinen Aufbruch, heißt es in der Regierung. Wie groß die Aufgabe ist, machte am Dienstag eine aktuelle Studie klar. Trotz guter Konjunktur vergrößert sich die Kluft zwischen armen und reichen Städten weiter. Gewaltige Schuldenberge, steigende Kosten für Hartz-IV-Empfänger und hohe Haushaltsdefizite setzten laut der Bertelsmann-Stiftung schwache Kommunen weiter stark unter Druck. Wachsende Städte profitieren dagegen von der Wirtschaftslage. Mit der Wirtschaftskraft ihrer Heimat drifteten auch die Lebensverhältnisse der Einwohner immer mehr auseinander, sagt René Geißler, Experte für Kommunalfinanzen. Und das in Zeiten der Hochkonjunktur. Wenn der Abschwung komme, sehe es düster aus.

© SZ vom 10.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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