Japan:Nicht genug geschützt

Lesezeit: 4 min

Die Oberhauswahl am Sonntag fand wie geplant statt - auch ein Zeichen, dass Japans Demokratie sich nicht einschüchtern lässt von Gewalt. (Foto: Toshifumi Kitamura/AFP)

Nach dem tödlichen Attentat auf Japans Ex-Premier Shinzō Abe verdichten sich die Erkenntnisse über das Motiv des Schützen. Zugleich bricht eine Sicherheitsdebatte los. Und dann muss auch noch eine Wahl stattfinden.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die japanische Welt war noch längst nicht in Ordnung, als am Sonntagabend um acht die Wahllokale zur Oberhauswahl schlossen. Das Land stand unter dem Eindruck des tödlichen Attentats auf den langjährigen Premierminister Shinzō Abe bei einer Wahlkampfveranstaltung am Freitag vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji in Nara.

In den Nachrichten konnten die Menschen verfolgen, wie der mutmaßliche Todesschütze, der 41-jährige Ex-Marinesoldat Tetsuya Yamagami, von der Polizeistation Nara-Nishi zur Staatsanwaltschaft gebracht wurde. Die Erkenntnisse über das Motiv verdichteten sich. Und eine schmerzhafte Debatte über die Sicherheit bei Auftritten prominenter Menschen nahm ihren Lauf, bei der Japans Polizei überhaupt nicht gut aussah.

Japan
:Tod einer Symbolfigur

Ex-Premier Shinzō Abe stand dafür, Japans defensive Rolle in der Sicherheitspolitik grundlegend zu ändern und das Land aus dem nach dem zweiten Weltkrieg verordneten Pazifismus in eine sicherheitspolitische Normalität zu führen. Wie positioniert sich das Land nun nach dem Attentat?

Von Stefan Kornelius

Shinzō Abe, 67, von der rechtskonservativen Regierungspartei LDP, war eine Ausnahmefigur in Japans Politik. Keiner war so lange Premierminister wie er. Er prägte die japanische Nachkriegsgeschichte mit konsequenter Wirtschaftspolitik, Nationalismus und agiler Diplomatie. Seine internationale Bedeutung konnte man schon an den Beileidsbekundungen aus der ganzen Welt ablesen, die Tokio nach dem Mordanschlag erreichten.

Auch Moskau drückte seine Anteilnahme aus, obwohl Japan die Sanktionen der Nato nach Russlands Angriff auf die Ukraine unterstützt; die russische Regierung teilte mit, Präsident Wladimir Putin habe ein Beileidstelegramm an Abes Mutter Yoko Kishi und dessen Frau Akie Abe geschickt, in dem er Abe als "wunderbaren Mann" würdigte. Selbst China und Südkorea schickten tröstende Worte. Wegen Japans Vergangenheit als Kolonialmacht hatten beide Länder gerade zu Abe ein gespanntes Verhältnis.

Der Attentäter könnte aus Wut über eine religiöse Organisation geschossen haben

Die Behörden bemühten sich fieberhaft um die Aufarbeitung des Geschehens. Schon am Samstag wurden neue Details zur Tat bekannt. Mit Verweis auf Ermittlerkreise berichteten japanische Medien, dass der festgenommene Yamagami zugegeben habe, Abe aus Ärger über eine religiöse Organisation mit einer selbstgebauten Waffe erschossen zu haben. Seine Mutter habe der Organisation so viel Geld gespendet, dass die Familie in Not gekommen sei. Zuerst habe er vorgehabt, den Leiter der Organisation umzubringen. "Aber das war schwierig. Deshalb habe ich mir Abe vorgenommen, weil ich glaubte, dass er Verbindungen zu der Organisation hat." So zitiert die Zeitung Asahi den Mann. "Ich wollte ihn töten."

Um welche Organisation es sich handelte, wurde nicht bekannt. Allerdings weisen frühere Medienberichte darauf hin, dass die Vereinigungskirche des verstorbenen koreanischen Sektengründers San Myung Mun gemeint sein könnte, die sich mittlerweile "Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung" nennt. Im September 2021 hatte zum Beispiel die Rote Fahne, die Zeitung der Kommunistischen Partei Japans (JCP), berichtet, Shinzō Abe habe sich in einer Videobotschaft an eine Gruppe gerichtet, die der besagten neuen religiösen Bewegung nahestehe. Ob das nun stimmt oder nicht - solche Berichte könnten Yamagami beeinflusst haben.

Ließ er sich beeinflussen von Berichten über angebliche Verbindungen Abes zu einer Religionsgemeinschaft? Der Tatverdächtige Tetsuya Yamagami am Sonntag. (Foto: Kyodo/Reuters)

In Asahi sagte ein nicht namentlich genannter Verwandter aus Osaka über Yamagami: "Er hatte schon als Kind eine harte Zeit wegen der religiösen Organisation, der seine Mutter beigetreten war." Der Vater, Inhaber einer Baufirma, sei früh gestorben. Die Mutter übernahm die Firma. 2002 meldete sie nach Angaben aus Ermittlerkreisen Konkurs an. Im gleichen Jahr trat Sohn Tetsuya den Maritimen Selbstverteidigungsstreitkräften bei, bei denen er knapp drei Jahre blieb.

Bis Mai dieses Jahres soll er eineinhalb Jahre bei einer Zeitarbeitsfirma registriert gewesen sein. Ein Fabrikinhaber aus der Präfektur Kyoto berichtete japanischen Reportern nach der Tat, Yamagami habe bei ihm als Gabelstaplerfahrer gearbeitet. Nach einem halben Jahr habe er zunehmend Regeln missachtet. Es habe Streit gegeben, Yamagami sei danach nicht mehr zur Arbeit gekommen, angeblich wegen "Herzproblemen". Im April habe er über die Zeitarbeitsfirma ausrichten lassen, dass er nicht mehr kommen werde. Er hatte wohl anderes zu tun. Die Polizei teilte mit, sie habe mehrere selbstgebaute Waffen in Yamagamis Wohnung gefunden. Er selbst soll in den Vernehmungen angegeben haben, dass er versucht habe, Bomben zu bauen.

Offenbar rechnete niemand damit, dass jemand eine Schusswaffe mitbringen könnte

Japan war am Wochenende deutlich gezeichnet von Trauer und Verunsicherung. Trauernde kamen zum Tatort vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji in Nara. Medien übertrugen am Samstag die Überführung des Sargs von Nara nach Tokio. Der Wahlkampf ging weiter. Die Oberhauswahl fand statt wie geplant. Japans Demokratie wollte zeigen, dass sie vor Gewaltverbrechern nicht einknickt. Allerdings fanden die letzten Wahlkampfreden der Spitzenpolitiker unter strenger Bewachung statt.

Denn sehr schnell kam zur Betroffenheit eine harte Sicherheitsdebatte. Shinzō Abe hatte die Wahlkampfrede am Freitagmittag um halb zwölf im normalen Tagesverkehr gehalten. Er stand auf einem kleinen Podest. Auf einem freien Platz, rundherum umgeben von Menschen. War das angemessen für den bekanntesten Politiker Japans? Zahlreiche Videos vom Tatort erweckten außerdem den Eindruck, als habe Abes Mörder nach seinem ersten Fehlschuss Zeit gehabt, ein zweites Mal anlegen zu können. In den Videos hört man eine sekundenlange Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss.

Weltweit geschätzt - und nun betrauert: Für Japans langjährigen Premierminister Shinzō Abe zünden sogar im indischen Ahmedabad Menschen Kerzen an. (Foto: Sam Panthaky/AFP)

Die Entscheidung, dass Shinzō Abe vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji auftreten würde, war erst am Abend zuvor gefallen. Dadurch hatten die zuständigen Polizeistellen in Nara möglicherweise zu wenig Zeit, sich auf die Risiken eines solchen Auftritts einzustellen. Aber sie waren wohl auch grundsätzlich nicht auf den Angriff mit einer Schusswaffe eingestellt.

Hideto Osanai, 49, Chef einer Bodyguard-Agentur, sagte in der rechten Zeitung Sankei: "In Japan geht man davon aus, dass Anschläge mit Messern und stumpfen Waffen verübt werden. Die Kollegen am Tatort sind zwar geschult, aber ich glaube nicht, dass sie auf die Möglichkeit vorbereitet waren, dass Prominente mit Schusswaffen angegriffen werden." In der Zeitung Mainichi kritisierte ein nicht namentlich genannter hochrangiger Polizist, dass zu wenige Beamte den Rücken Abes absicherten.

Im Sender NHK sagte der Sicherheitsexperte Koichi Ito: "Auf Videos können wir sehen, wie der Verdächtige mit einer Tasche herumläuft und vor dem Vorfall direkt auf den ehemaligen Premierminister Abe zugeht." Das Verhalten hätte auffallen müssen. Koichi: "In Anbetracht der unumstößlichen Regel, verdächtige Personen vom Tatort zu entfernen, zu befragen und ihre Sachen zu untersuchen, muss ich sagen, dass es in diesem Fall einen Mangel an Koordination zwischen Sicherheitskräften gab." Am Samstagabend trat dann Tomoaki Onizuka, der Polizeipräsident der Präfektur Nara, vor die Presse. Er sprach über die Überwachung Abes und sagte: "Es ist unbestritten, dass es Sicherheitsprobleme gab."

An Rücktritt denke er vorerst nicht, sagte Onizuka. Aber die Kritik konnte der Polizeipräsident auch nicht widerlegen. Am ersten Wochenende nach dem fatalen Attentat blieb die bedrückende Erkenntnis: Shinzō Abe könnte noch leben, wenn er besser geschützt worden wäre.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusZum Tod von Shinzō Abe
:Ein Kämpfer für sein Japan

Shinzō Abe war länger japanischer Premier als alle anderen vor ihm. Immer hatte er vor, das Land nach seinen Vorstellungen zu stärken. Auch jetzt noch, im Ruhestand. Nun hat ihn ein Attentäter erschossen.

Von Thomas Hahn

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: