Ein Mord an einem Politiker ist immer politisch , ob der Attentäter aus Verwirrung oder in manipulativer Absicht gehandelt hat. So wird auch der Tod von Shinzō Abe tiefe Spuren in der japanischen Politik hinterlassen. Abe war der am längsten dienende Premierminister in der japanischen Nachkriegsgeschichte, er war bis zuletzt die bestimmende Figur der allmächtigen LDP, ein Mann von turmhoher Bedeutung für die Positionierung des Landes in der wohl wichtigsten Krisenregion der nächsten Dekade - dem Pazifik. Wer diesen Menschen ermordet, der erschüttert die Politik bis ins Mark - ob nun beabsichtigt oder nicht.
Abe wurde am Freitag in Nara, Hauptstadt der gleichnamigen Präfektur im Süden der Hauptinsel Honshu, während eines Wahlkampfsauftritts von dem 41-jährigen Tetsuya Yamagami erschossen. Von zwei Salven aus einer offenbar selbstgebauten Waffe traf zumindest eine den 67 Jahre alten Politiker, der ohne Lebenszeichen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Reanimierungsversuche blieben erfolglos.
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Eine Welle der Bestürzung und unzählige Beileidsbekundungen fluteten unmittelbar nach der Todesnachricht durch die Kommunikationskanäle. Abe war nicht nur der möglicherweise wichtigste und einflussreichste Politiker im modernen Japan, er war eine polarisierende und elektrisierende Figur. Seine Ziele waren ambitioniert bis revolutionär, sein Einfluss auf die konservative Ausrichtung der japanischen Gesellschaft, seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik und vor allem sein Druck für einen Umbau der japanischen Sicherheitsarchitektur haben ihn zum stärksten Symbol eines selbstbewussten, aber auch nationalistischen Japans gemacht. Kein Wunder, dass er dabei auch zu einer Reizfigur wurde.
Weltweites Entsetzen
Entsetzt reagierte die Welt auf den Mord. Abe war zehn Jahre lang der Vertreter seines Landes auf der globalen Bühne - entsprechend schockiert zeigten sich seine politischen Zeitgenossen, die allesamt vor Augen geführt bekamen, wie gefährdet sie in ihrem Beruf sind. Morde oder Mordversuche an Politikern sind weltweit ein stets wiederkehrendes Phänomen. In demokratischen Staaten, wo die Ermordung durch den politischen Gegner nicht zum Berufsrisiko gehört - sind die Täter nicht selten verwirrt, psychisch gestört oder handeln aus terroristischen oder extremistischen Motiven. Immer gilt die Tat einer Symbolfigur, die durch ihren Beruf überaus bekannt, aber auch unnahbar erscheint. Der Täter verspricht sich nicht selten Berühmtheit, Aufmerksamkeit oder Erlösung von eigenen Traumata.
So schoss John Hickley auf den US-Präsidenten Ronald Reagan, weil er die Aufmerksamkeit der von ihm verehrten Schauspielerin Jodie Foster erregen wollte. Dieter Kaufmann, der 1990 auf den damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble schoss, lebte in einer Wahnwelt. Spektakuläre Attentate wie die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy oder des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme entfalteten ihre politische Wirkung auch deshalb, weil sich über Motiv und Täter jahrelang Konspirationen entwickeln konnten.
Nach Abes Tod wird eine alte Debatte wiederaufleben: Wie friedliebend ist die aggressionsentzogene und enorm rücksichtsvolle japanische Gesellschaft wirklich? In Japan kann praktisch niemand privat eine Waffe besitzen, die Mordrate fällt im globalen Vergleich unter die besten zehn. Schwere Gewalt ist im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. 2017 gab es im gesamten Land drei durch Waffengewalt verursachte Todesfälle. Der bekannteste politisch motivierte Mord datiert zurück auf das Jahr 1960, als der Anführer der sozialistischen Partei von einem rechtsextremen Fanatiker mit einem Samurai-Schwert getötet wurde.
Pazifismus als Reizthema
Abe stand dafür, Japans defensive Rolle in der Sicherheitspolitik grundlegend zu ändern und das Land aus dem nach dem Zweiten Weltkrieg verordneten Pazifismus in eine sicherheitspolitische Normalität zu führen. Dazu gehörte sein Lebensziel, den sogenannten Pazifismus-Paragrafen aus der Verfassung zu streichen und Japan eine normale Abschreckungspolitik zu ermöglichen. Weil Abe freilich auch immer nationalistische Bedürfnisse befriedigte und die Verbindung zur militaristischen Vergangenheit durch demonstrative Besuche des Yasukuni-Schrein mit seiner undifferenzierten Heldenverehrung aufrechterhielt, wuchsen auch Misstrauen und Kritik.
In China posteten Nationalisten unmittelbar nach der Tat Freudenbotschaften in digitalen Kanälen und nannten den Attentäter einen Helden. Wie kein Zweiter hatte Abe Chinas aggressive Außenpolitik kritisiert und sich - nach seiner Amtszeit - für eine Anerkennung Taiwans ausgesprochen. Der Täter ließ sich nach ersten Erkenntnissen von all diesen Motiven offenbar nicht treiben. Allerdings ist das bei Morden an Politikern zweitrangig. Die Tat ist Symbol genug - die Öffentlichkeit entscheidet, wofür.