Bestes Einvernehmen: Der deutsche General Heinz Guderian (links vorne auf dem Podest) und der russische Brigadegeneral Semjon Kriwoschein im September 1939 bei einer gemeinsamen Parade im polnischen Brest-Litowsk.
(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)Wie erinnern sich denn Polen und die baltischen Staaten an den Hitler-Stalin-Pakt?
In Polen wird er ganz klar als Startschuss zum - ohne Kriegserklärung erfolgten - Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September und zum Einmarsch sowjetischer Truppen in den Ostteil Polens am 17. September 1939 gesehen. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Polen auch die militärische und geheimdienstliche Kooperation der beiden Okkupationsmächte noch sehr präsent. Um ein Beispiel zu nennen: In Polen sind Fotografien der gemeinsamen Militärparade von Wehrmacht und Roter Armee in Brest-Litowsk Ende September 1939 allgegenwärtig.
Wird das in den baltischen Staaten genauso gesehen?
In Estland, Lettland und Litauen wird vor allem die Aggressivität der Sowjetunion betont. Stalin hat sich ja im Zuge des Paktes alle drei Staaten einverleibt. Deutschland kam im Baltikum erst im Sommer 1941 durch den Vormarsch der Wehrmacht ins Spiel. Dieser Vormarsch wurde von den meisten Bewohnern der drei baltischen Staaten als Befreiung von der sowjetischen Besatzung begrüßt.
Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen historischer Erinnerung in Europa. Unter anderem hat er den Sammelband "Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer" (Wallstein Verlag Göttingen 2011) mit herausgegeben.
Der Westteil der Ukraine gehörte bis September 1939 zu Polen. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts wurde er der Sowjetunion zugeschlagen. Unterscheidet sich also die Sichtweise auf den Nichtangriffspakt im Westen und Osten der Ukraine?
Nein. Die Westukraine rechnet sich ja historisch nicht Polen zu, sondern war schon vor 1939 die Hochburg des ukrainischen Strebens nach Eigenstaatlichkeit. Der Einmarsch der Roten Armee infolge des Pakts wird daher bislang in der gesamten Ukraine positiv gesehen. Die Rede ist vom "Goldenen September 1939", in dem die widerrechtlich von den Polen "geraubte" Westukraine der Ukraine zurückgegeben wurde. Ganz ähnlich wird bis heute in Weißrussland argumentiert.
Den baltischen Staaten ist es ja interessanterweise später gelungen, den 23. August positiv umzudeuten.
In den baltischen Sowjetrepubliken war der Hitler-Stalin-Pakt der Angelpunkt der eigenen Erinnerungskultur. Der 23. August 1939 galt als der Tag, an dem die erst zwei Jahrzehnte zuvor errungene Eigenstaatlichkeit durch die Absprache zweier totalitärer Diktaturen zerstört wurde. In den späten 1980er Jahren haben sich Historiker aus den baltischen Staaten intensiv mit der Frage der Authentizität des Geheimen Zusatzprotokolls beschäftigt. Und am 50. Jahrestag des Pakts, am 23. August 1989, wurde aus Protest gegen die sowjetische Annexion eine Menschenkette gebildet, die von Tallinn über Riga bis nach Vilnius reichte. Sie war mehr als 600 Kilometer lang. Das fand 2009 insofern eine Fortsetzung, als das Europäische Parlament auf Betreiben der Balten den 23. August zum "Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" erklärte.
Der Tag wird also in der EU jetzt hoch gehalten?
Wie man's nimmt. Der Gedenktag wird auf EU-Ebene in diesem Jahr in der lettischen Hauptstadt Riga begangen. Da werden die Justizminister einer Reihe von EU-Staaten zusammenkommen. Das halte ich in gewisser Weise für bezeichnend. Die Zuständigkeit für eine gesamteuropäische Erinnerung wird den Justizministern übertragen - nicht etwa den Staats- und Regierungschefs oder zumindest den Außenministern. Ich bin gespannt, ob dieser europäische Gedenktag an diesem 23. August in Deutschland in offizieller Form begangen wird. Ich glaube nicht.
Die Ukraine-Krise und der Umgang damit wird von Polen und den baltischen Staaten mit großer Sorge beobachtet. Wird in dem Zusammenhang Bezug genommen auf den Hitler-Stalin-Pakt?
Das ist eher eine entfernte Erinnerung. Russland wird im Baltikum und Polen prinzipiell für eine expansionistische Macht gehalten. Eine militärische Aggression gegen das eigene Staatsgebiet wird daher nicht ausgeschlossen. In Estland gibt es im Nordosten des Landes eine große russischsprachige Minderheit, und entsprechend kann man sich dort gut ein Szenario wie im Osten der Ukraine oder gar auf der Krim vorstellen. Auch Polen hat eine unmittelbare Grenze zu Russland, nämlich zur russischen Exklave Kaliningrad, was in Deutschland oft vergessen wird.